Beschluss: Kenntnis genommen

Vorsitzende Schäpers bittet Frau Dr. Göhler, aus der Sicht der Unteren Gesundheitsbehörde das Verfahren zur Feststellung von Art und Umfang des Bedarfs an Frühförderung darzustellen.

 

Frau Dr. Göhler führt zunächst aus, dass der Begriff Frühförderung eine Sammelbezeichnung für pädagogische und therapeutische Maßnahmen für behinderte und von Behinderung bedrohte Kinder in den ersten sechs Lebensjahren (bzw. bis zur Einschulung) sei. Eine Behinderung sei eine besondere, eingeschränkte Art von Gesundheit, wobei Gesundheit nach der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ein Zustand des völligen körperlichen, geistigen und seelischen Wohlbefindens sei. Frau Dr. Göhler weist darauf hin, dass ein behinderter Mensch nicht fortwährend krank sei, sehr wohl aber einen unverzichtbaren Anspruch auf die Wiederherstellung eines normalen Zustandes (Rehabilitation) habe. Behinderung sei somit primär kein medizinischer Begriff, sondern die Beschreibung einer Normabweichung. Die Entwicklung des Menschen erstrecke sich über das gesamte Leben und stelle die Reifung eines in Grundzügen vorherbestimmten, aber offenen Systems dar. Entwicklungsauffälligkeiten könnten hierbei in Form von Verzögerungen, Gefährdungen und Störungen auftreten. Eine Entwicklungsstörung sei gleichbedeutend mit einer drohenden Behinderung, die Beeinträchtigungen im Alltag und soziale Benachteiligung nach sich ziehen und zu einer Behinderung führen könne.

Frau Dr. Göhler weist darauf hin, dass bei der Beurteilung, ob eine Entwicklungsstörung tatsächlich vorliege, die große Variabilität der kindlichen Entwicklung nicht außer Acht gelassen werden dürfe. Als geeignet zur frühzeitigen Identifizierung von entwicklungsauffälligen Kindern hätten sich die von Michaelis entwickelten Grenzsteine herausgestellt. Diese Grenzsteine seien Entwicklungsziele, die von 90 – 95 % einer definierten Population gesunder Kinder bis zu einem bestimmten Alter erreicht worden seien. Sie seien ein Screening-Instrument, ersetzen aber keine weiterführende Diagnostik.

 

Frau Dr. Göhler führt aus, dass es im Kreis Coesfeld keine interdisziplinäre Frühförderstelle gebe. Ambulante heilpädagogische Frühförderstellen seien Haus Hall in Coesfeld und die Kinderheilstätte Nordkirchen mit dem Standort Lüdinghausen. Darüber hinaus gebe es frei niedergelassene Heilpädagogen.

Anlass für die Prüfung, ob eine Frühförderung angezeigt sei, könne die Sorge der Eltern um die Entwicklung ihres Kindes, die Beurteilung eines Kinderarztes zu Entwicklungsauffälligkeiten oder die Hinweise anderer Institutionen, mit denen die Eltern Kontakt hätten, sein. Die Eltern suchten somit eigeninitiativ oder auf Anraten von außen eine der beiden Frühförderstellen oder eine /einen frei niedergelassene/n Heilpädagogin/-pädagogen mit der Bitte um Entwicklungsüberprüfung auf. Hier werde eine heilpädagogische Diagnostik durchgeführt. Bei Entwicklungsverzögerungen mit heilpädagogischem Förderbedarf können die Eltern einen Antrag auf Eingliederungshilfe beim Sozialamt stellen. Das Sozialamt stelle an das Gesundheitsamt den Untersuchungsauftrag und übermittele die heilpädagogische Befund-Diagnostik und einen kurzen kinderfachärztlichen Befund mit Darlegung des Störungsbildes. Die Untersuchung des Kindes finde wohnortnah in einem der drei Untersuchungsorte (Lüdinghausen, Dülmen oder Coesfeld) statt. Eine Kurzmitteilung bezüglich der Notwendigkeit von heilpädagogischem Förderbedarf erfolge am gleichen Tag an das Sozialamt. Ferner ergehe nachfolgend ein ausführlicher Untersuchungsbericht.

Frau Dr. Göhler weist darauf hin, dass die Entscheidung über Heilpädagogik als geeignete Maßnahme nach Sammeln, Sichten und Werten bereits vorliegender Befunde, Anamneseerhebung und Untersuchung des Kindes sowie abschließender Beurteilung unter Würdigung der Fremd- und Eigenbefunde erfolge. Bei Bedarf würden weitere erforderliche diagnostische und therapeutische Maßnahmen veranlasst, z. B. neuropädiatrische Abklärung, augen- und ohrenärztliche Kontrolle.

Das Sozialamt entscheide über den Antrag mit Hilfe des Befundes vom Gesundheitsamt und erteile den Eltern den entsprechenden Bescheid.

 

Frau Dr. Göhler führt aus, dass die Untersuchungsbefunde in anonymisierter Form mit folgenden Zielen gespeichert würden:

-        Erfassung der Förderanträge,

-        Verlaufsbeobachtung des heilpädagogischen Förderbedarfs im Kreis Coesfeld,

-        Auswertung der hier erhobenen Befunde.

Frau Dr. Göhler stellt fest, dass im Zeitraum 01.10.2003 bis 30.09.2004 im Kreis Coesfeld insgesamt 241 Kinder (172 Jungen und 69 Mädchen) untersucht worden seien. Die meisten Kinder kämen, wenn sie zwischen 3 und 5 Jahren alt seien.

Von den 241 gestellten Anträgen seien 230, mithin 95,4 %, befürwortet und 11 abgelehnt worden. Die bewilligte Förderdauer habe in 70 Fällen sechs Monate und in 160 Fällen zwölf Monate betragen. Hierbei solle die Förderdauer nicht immer auf den maximalen Zeitraum ausgedehnt werden, damit zu gegebener Zeit auch über eine anderweitige z. B. logopädische Förderung entschieden werden könne.

Zu den gestellten Diagnosen führte Frau Dr. Göhler aus, dass in 141 Fällen allgemeine Entwicklungsverzögerungen, in 58 Fällen Sprachentwicklungsverzögerungen, in fünf Fällen Verdacht auf geistige Behinderung und in 37 Fällen sonstige Diagnosen, z. B. ADS-Syndrom festgestellt worden seien. Die Entwicklungsbereiche Körpermotorik, Handmotorik, Kognition, Sprache, Sozialisation und emotionale Kompetenz seien dabei untersucht worden.

Als Fazit stellte Frau Dr. Göhler fest, dass Jungen häufiger betroffen seien als Mädchen. Am häufigsten träten Auffälligkeiten im Bereich der Sprache und Kognition auf. Die meisten Kinder seien in drei und mehr Bereichen auffällig.

 

Auf die Frage der Ktabg. Pieper, ob im Rahmen der geänderten Zugangsfeststellung zur Frühförderung, bisher Frühförderstellen nunmehr Gesundheitsamt, nicht alles genehmigt worden sei bzw. Auflagen erfolgt seien, antwortet Frau Dr. Neubert, dass die Zugangsfeststellung in Zusammenarbeit mit den Frühförderstellen erfolge. Es erfolge keine Reglementierung; Auflagen würden nicht gemacht.

Ktabg. Pieper bittet mitzuteilen, ob unter den geförderten Kindern auch Migrantenkinder seien. Hierzu teilt Frau Dr. Neubert mit, dass entsprechendes Zahlenmaterial nicht vorhanden sei. Nach ihrer Erfahrung seien aber auch Migranten- und Spätaussiedlerkinder darunter.

 

Auf die Frage der Ktabg. Willms, ob auch aufgrund der augen- und ohrenärztlichen Untersuchungen in den Kindergärten erste Hinweise auf die Notwendigkeit einer Frühförderung festgestellt worden seien, erklärt Frau Dr. Neubert, dass aufgrund des Personalmangels nicht mehr in jedem Kindergarten jährlich ein Hör- und Sprachscreening durchgeführt werden könne. Vorrangig werde in den Kindergärten untersucht, in denen die Kinder medizinisch nicht so gut versorgt seien. Als Indikator hierfür werde auf die durch den zahnmedizinischen Dienst festgestellten Versorgungsmängel zurückgegriffen.

 

Ltd. KRD Schütt weist darauf hin, dass seit geraumer Zeit die Frühförderverordnung für eine interdisziplinäre Zusammenarbeit in Kraft sei, aber noch keine Rahmenempfehlungen abgeschlossen seien. Es seien bisher nicht alle Punkte geregelt, so dass ggf. vieles selbst mit den Krankenkassen verhandelt werden müsste. Ein Punkt sei z. B. die Frage, ob die Eingangsdiagnostik durch das Gesundheitsamt oder durch den medizinischen Dienst der Krankenkasse erfolge.

 

Herr Dr. Erfeld weist darauf hin, dass nach Auffassung der Spitzenverbände der Wohlfahrtspflege die Landesrahmenempfehlungen zunächst in Modellregionen umgesetzt werden sollten. Ein gemeinsamer Antrag der Frühförderstellen sei erfolgt. Ein wichtiger Schritt sei die Aufnahme von komplexen Leistungen in das SGB IX.

 

Ktabg. Willms bedankt sich bei Frau Dr. Göhler für den sehr informativen Vortrag und regt an die Inhalte des Vortrages den angehenden Erzieherinnen ebenfalls zugänglich zu machen.

 

Frau Dworak trägt einleitend vor, dass es erstrebenswert sei, die Frühförderung als Komplexleistung anzubieten, da im Grunde die Entwicklung eines Kindes unteilbar sei und bisher eine künstliche Aufteilung erfolge.

Zurzeit sei es so, dass sich Eltern und ggf. auch Kinderärzte in Absprache mit den Eltern bei den Frühförderstellen melden. In dem ausführlichen Gespräch mit den Eltern werde alles ab der Schwangerschaft thematisiert. In standardisierten, mit dem Gesundheitsamt abgestimmten Testverfahren werde der Entwicklungstand des Kindes festgestellt. Hierbei sei es so gut wie nie der Fall, dass ein Kind keinen Förderbedarf habe. Darüber hinaus würden weitere Informationen über das Kind bei anderen Stellen gesammelt, um die Probleme des Kindes einschätzen zu können. Im Team werde dann entschieden, ob aus Sicht der Frühförderstelle eine Frühförderung für erforderlich gehalten werde. Frau Dworak weist darauf hin, dass die letzte Entscheidung bei den Eltern liege, ob sie für ihr Kind eine Frühförderung wollen oder nicht. In 2003 seien insgesamt 118 Kinder vorgestellt und 64 Anträge auf Frühförderung gestellt worden

 

Auf die Frage der Ktabg. Pieper, inwieweit sich Schnittstellen zur Jugendhilfe ergäben, erklärt Frau Dworak, dass die Frühförderstelle grundsätzlich eng mit dem Jugendamt zusammenarbeite. Beim Aufnahmeverfahren sei dies jedoch zunächst schwierig; es sei denn, das Problem sei so augenfällig, dass die Einschaltung des Jugendamtes sich von selbst geböte. Im Förderverlauf werde jedoch ggf. dem Jugendamt berichtet, soweit eine Gefährdung des Kindes deutlich werde. Eine Durchschrift des Berichtes werde den Eltern mit einer Einladung zu einem Gespräch zugesandt.

 

Frau Dietrich teilt mit, dass sie bisher im Bereich der Frühförderung tätig gewesen sei, und dass ihre Nachfolgerin Frau Dönnebrink sei. Sie führt aus, dass es Auftrag der Frühförderung sei, Familien mit einem behinderten oder von Behinderung bedrohten Kind zu begleiten und zu unterstützen, um entwicklungsfördernde Bedingungen im Alltag mit dem Ziel der größtmöglichen Teilhabe des Kindes an der Gemeinschaft schaffen zu können. Anhand des Beispiels der Frühförderung des Kindes Paul stellt Frau Dietrich die grundlegenden Arbeitsprinzipien dar. Ein Arbeitsprinzip sei die Ganzheitlichkeit. Dies bedeute zunächst einmal eine kindzentrierte Förderung, indem Paul als Person mit seiner individuellen Lebensgeschichte, seiner Lebenssituation und seinen besonderen Fähigkeiten gesehen werde. Die Beratung der Familie von Paul als System mit den bestehenden Beziehungs- und Erziehungsverhältnissen und ihren besonderen Fähigkeiten. Es gehöre auch die Vernetzung, der Austausch und die Zusammenarbeit mit dem interdisziplinären System z. B. bestehend aus Kinderarzt, Kindergarten, Kinder- und Jugendpsychotherapeutin dazu. Partizipation zu ermöglichen, gehöre ebenfalls zu den grundlegenden Arbeitsprinzipien. Ein Dialog zwischen Paul, seiner Familie und dem weiteren Bezugssystem unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Bedeutung müsse gestaltet werden. Hierbei erfolge die Orientierung am Kind in der Gesamtheit seiner Beziehungen, seiner inneren und äußeren Ressourcen und den Bewältigungsstrategien seiner Familie. Ein weiteres grundlegendes Arbeitsprinzip sei die Familienorientierung. Die Eltern sollten im Umgang mit Paul unterstützt und stabilisiert werden, so dass ihre Erziehungskompetenz gestärkt werde. Es erfolge ebenso eine individuelle Begleitung durch das Angebot der mobilen und ambulanten Frühförderung. Dies bedeute u. a., dass Termin und Ort der Frühförderung an die Bedürfnisse der Familie angepasst würden. Familienorientierung bedeute auch Kontinuität in der Begleitung von Kind und Eltern. Es würden daher keine wechselnden Personen in der Betreuung eingesetzt. Hilfestellungen zur Auseinandersetzung mit der durch das Kind veränderten Lebenssituation bezüglich der Elternrollen, Partnerbeziehungen, Geschwisterbeziehungen und Außenbeziehungen würden gegeben. Im Interesse von Paul und seiner Familie sei eine Interdisziplinarität zu gewährleisten, mithin ein Informations- und Erfahrungsaustausch mit Kinderarzt, Kindergarten und Therapeutin und eine gemeinsame Förder- und Behandlungsplanung zu unterstützen.

Frau Dietrich führt weiter aus, dass eine kindzentrierte Förderung im Fall von Paul zunächst mit einer differenzierten Wahrnehmungsschulung und einer Versorgung in seinen Grundbedürfnissen, z.B. in Form von körperlicher Zuwendung, einhergehe. Zur Identitätsentwicklung gehöre das Auffangen seiner Selbstunsicherheit durch Empathie sowie durch ein klares und sicheres Beziehungsangebot. Die kindzentrierte Förderung umfasse die Lockung und Ausweitung seiner sozial-emotionalen Ressourcen, die Spielförderung und die Sprachförderung. Bestandteile seien auch die Beobachtung der Mutter-Kind Interaktion und die Hospitation im Kindergarten. Die kindzentrierte Förderung könne in die Beantragung einer integrativen Erziehung und in die Vorstellung bei einem Kinderpsychologen münden. Die Elternarbeit umfasse das Lernen am Modell, die Stärkung der Erziehungskompetenz und die Begleitung im Rahmen interdisziplinärer Arbeit. Die Gestaltung der Mutter-Kind-Beziehung werde beobachtet und analysiert. Die Bedingungen im Alltag würden kindgerecht gestaltet. Ggf. erfolge eine Beratung zur Notwendigkeit der eigenen psychotherapeutischen Behandlung. Die Elternarbeit beinhalte auch die Beratung hinsichtlich des spieltherapeutischen Behandlungsbedarfes.

Frau Dietrich trägt vor, dass die Fördereinheit im häuslichen Umfeld gemeinsam mit der Mutter gestaltet werde. Sie setze sich aus Spiel kombiniert mit Reflexion und Analysen zusammen. Das Lernen erfolge am Modell unter Einbeziehung von „Hausaufgaben“, z. B. Gestaltung des Kinderzimmers. Hinsichtlich Erziehungsfragen fänden Einzelgespräche statt.

 

Auf die Frage des Ktabg. Voß, wie die weitere Entwicklung des Kindes Paul verlaufen sei, antwortet Frau Dietrich, dass Paul nach wie vor ein unruhiges Kind sei, dass aber Pauls Mutter seinen Bewegungsdrang gut steuern könne.

 

Vorsitzende Schäpers bedankt sich bei allen Vortragenden für die umgangreichen und informativen Ausführungen.

 

Ltd. KRD Schütt weist darauf hin, dass heute zunächst der Ist-Zustand präsentiert worden sei. Über die weitere Entwicklung werde im Laufe des Jahres berichtet.

Er sagt zu, den Vortrag von Frau Dr. Göhler an alle per E-Mail sowie jeweils einen Ausdruck an die Fraktionen zu senden.