Betreff
Bereitstellung von zwei festen Inobhutnahmeplätzen für minderjährige Kinder und Jugendliche ab 6 Jahren
Vorlage
SV-9-1557
Art
Sitzungsvorlage

Beschlussvorschlag:

 

Die Verwaltung wird beauftragt, mit der Stadt Coesfeld und der Stadt Dülmen als Träger der öffentlichen Jugendhilfe mit Trägern von stationären Hilfen zur Erziehung Vereinbarungen abzuschließen mit dem Tenor, dass bei anteiliger Finanzierung den Jugendämtern zwei Inobhutnahmeplätze für die kurzfristige Inanspruchnahme fest zur Verfügung gestellt werden.

 

Begründung:

 

I.   Problem

In der Jugendhilfeausschusssitzung am 09.09.2019 wurde mitgeteilt, dass die drei Jugendämter im Kreis Coesfeld beabsichtigen, gemeinsam zwei Plätze für die Inobhutnahme fest zu buchen, um auch zukünftig dem kurzfristigen und mit einem Rechtsanspruch versehenen Bedarf entsprechen zu können.

 

Rechtsgrundlage

Die zentrale Rechtsgrundlage findet sich in § 42 SGB VIII: Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen, hier in Auszügen zitiert:

 

(1) Das Jugendamt ist berechtigt und verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn

1. das Kind oder der Jugendliche um Obhut bittet oder

2. eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen die Inobhutnahme erfordert und

a) die Personensorgeberechtigten nicht widersprechen oder

b) eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann (…).

 

Die Inobhutnahme umfasst die Befugnis, ein Kind oder einen Jugendlichen bei einer geeigneten Person, in einer geeigneten Einrichtung oder in einer sonstigen Wohnform vorläufig unterzubringen (…).

 

(2) Das Jugendamt hat während der Inobhutnahme die Situation, die zur Inobhutnahme geführt hat, zusammen mit dem Kind oder dem Jugendlichen zu klären und Möglichkeiten der Hilfe und Unterstützung aufzuzeigen (…). Das Jugendamt hat während der Inobhutnahme für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen zu sorgen und dabei den notwendigen Unterhalt und die Krankenhilfe sicherzustellen (…). Das Jugendamt ist während der Inobhutnahme berechtigt, alle Rechtshandlungen vorzunehmen, die zum Wohl des Kindes oder Jugendlichen notwendig sind (…).

 

Die Vorschrift regelt die rechtlichen und fachlichen Anforderungen an eine zeitlich begrenzte Krisenintervention (Inobhutnahme) durch das Jugendamt und gibt dem Jugendamt die Befugnis sowie die Pflicht zum elternunabhängigen unmittelbaren Handeln zum Schutz des Kindes oder Jugendlichen in Eil- und Notfällen. Die Inobhutnahme vereinigt damit Leistungs- und Eingriffsaspekte.

 

Ausgangslage

In der Vergangenheit wurden Inobhutnahmen in Abstimmung mit den beiden anderen Jugendämtern im Kreis Coesfeld vorwiegend im Alexianer Martinistift in Nottuln-Buxtrup (Jungen ab 12 Jahre) und in der Kiwo Jugendhilfe Dülmen (Kinder bis 12 Jahre, Mädchen ab 12 Jahren) durchgeführt. Dies erfolgte über viele Jahre recht zufriedenstellend, allerdings nie auf Grundlage einer schriftlichen Vereinbarung, obwohl es dazu schon Ende der 90er Jahre Bestrebungen gab. Bestanden bei den genannten Trägern keine Aufnahmekapazitäten, wurden weitere Träger außerhalb des Kreises angefragt.

In den letzten Jahren wurde immer deutlicher, dass Inobhutnahmen nicht nur im Einzelfall, sondern auch strukturell immer intensiver, anspruchsvoller und schwieriger sicherzustellen sind. Die zwar nicht verschriftlichte, aber über viele Jahre gewachsene und verlässliche Kooperation der drei öffentlichen mit den zwei freien Trägern erweist sich mittlerweile als nicht mehr ausreichend, um den rechtlichen und fachlichen Anforderungen gerecht zu werden.

Dies wurde unter dem Stichwort der Sicherstellung der Inobhutnahmen von Kindern unter 6 Jahren im Kreis Coesfeld im Ausschuss am 27.11.2018 (SV-9-1230) für diese Zielgruppe thematisiert. Damals wurde die Verwaltung beauftragt, mit den Jugendämtern des Kreises Coesfeld und der Stadt Dülmen eine Vereinbarung abzuschließen mit dem Tenor, dass beim Jugendamt des Kreises Coesfeld die Organisation und Einsatzplanung von familienanalogen Bereitschaftspflegestellen jugendamtsübergreifend für den gesamten Kreis Coesfeld gebündelt wird. Diese Maßnahme ist zum 01.01.2019 umgesetzt worden.

 

Folgende zentrale Entwicklungen bzw. Erkenntnisse kennzeichnen die Problematik:

 

§  Inobhutnahmeplätze finden

Es ist immer schwieriger, für ältere Kinder/Jugendliche kurzfristig Inobhutnahmeplätze zu finden. Wenn im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) ein Jugendlicher unterzubringen ist, müssen oft viele Träger und Stellen angerufen werden. Häufige Antwort ist, dass alle verfügbaren Plätze belegt sind oder auch, dass für diesen Jugendlichen mit seiner spezifischen Problematik kein konkretes Angebot gemacht werden kann.

Dies ist keine singuläre Erfahrung des ASD. Auch der beim Kiwo angesiedelte Bereitschaftsdienst hat signalisiert, große Probleme zu haben, wenn es um die Unterbringung von älteren Kindern und Jugendlichen geht.

 

§  Inobhutnahme im Einzelfall gestalten

Das Kinderwohnheim und das Martinistift haben angezeigt, dass es für sie zunehmend problematischer wird, Inobhutnahmen geeignet zu gestalten. Wenn ein junger Mensch aus einer Krisensituation heraus in Obhut genommen wird, befindet er sich selbst in einer Krise, und er verhält sich nicht selten selbst kritisch. Das lässt sich nicht durchgängig in Regelgruppenstrukturen mit zusätzlichem Personal für den Zweck der Inobhutnahme auffangen. Für die Gruppe bedeutet die ungeplante Aufnahme eine große Herausforderung. Es ist schwierig, in einer solchen Situation allen Bewohnerinnen und Bewohnern gerecht zu werden. Auch umgehend zusätzliches Personal zu akquirieren ist für die Träger nicht einfach.

 

§  Vorgaben im Rahmen der Betriebserlaubnis

Inobhutnahmeplätze bei freien Trägern der Jugendhilfe bedürfen der Betriebserlaubnis gem. § 45 SGB VIII. Bislang fanden die Inobhutnahmen im Kinderwohnheim, im Martinistift oder auch bei anderen Trägern im Wesentlichen auf so genannten „eingestreuten Plätzen“ statt. Es handelt sich dabei um unbelegte Plätze in Regelgruppen[1]. Dies wurde zunehmend kritisch gesehen, nicht nur von den Heimträgern, sondern auch vom betriebserlaubniserteilenden Landesjugendamt. Die grundlegende Position des Landesjugendamtes ist, keine Inobhutnahme mehr zuzulassen in Gruppen, in denen der Verbleib der Bewohner langfristig, d.h. auf Beheimatung, angelegt ist. Damit ist die langjährige Praxis der eingestreuten Plätze in Regelgruppen als strukturelles Angebot nicht mehr möglich.

 

Die Problematik ist im Übrigen nicht Kreis Coesfeld spezifisch. Vielen Jugendämtern fehlen geeignete oder ausreichende Plätze.

 

 

II.  Lösung

 

Die drei Jugendämter sind sich einig, dass der Bedarf nicht rechtfertigt, im Kreis Coesfeld eine eigene Gruppe z. B. als Jugendschutzstelle aufzubauen. Diese Ansicht wird auch vom Landesjugendamt, das in den Prozess involviert ist, geteilt.

 

Für den Zeitraum vom 01.01.2017 bis 05.12.2018, also knapp zwei Jahre, waren für die drei Jugendämter zusammen 86 Inobhutnahmen zu verzeichnen. Bei einer durchschnittlichen Dauer von 6,4 Tagen ergibt sich damit eine Belegungsdauer von ca. 1,5 Jahren. Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine hohe Fluktuation gegeben ist, zeitgleich mehrere Inobhutnahmen vorkommen können und die Altersspanne von 7 bis 17 Jahren abzudecken ist. Ein achtjähriges Mädchen hat einen ganz anderen Bedarf als ein 16-jähriger Junge und braucht einen anderen Hilferahmen.

Daraus ermittelt sich der Bedarf an zwei Plätzen: Ein Platz für Kinder bis 12 bzw. 13 Jahren sowie ein weiterer Platz für minderjährige Jugendliche.

 

Im laufenden Jahr wurden seitens des Kreisjugendamtes bereit 49 Inobhutnahmen von Kindern und Jugendlichen im Altern von 0-17 in unterschiedlichen Einrichtungen und bei geeigneten Personen durchgeführt.

 

In der kreisweiten AG 78 Hilfen zur Erziehung am 23.05.2019 wurden die Mitglieder über das Interesse der öffentlichen Träger an pauschal finanzierten Inobhutnahmeplätzen informiert. Darüber hinaus sind sie und weitere freie Träger mit geeignetem Platzangebot schriftlich aufgefordert worden, entsprechende Angebote zu unterbreiten.

 

Mittlerweile liegen mehrere Angebote und Konzepte vor, die sich zum Teil noch in der Abstimmung mit dem Landesjugendamt befinden.

 

Die Entscheidung der drei Jugendämter, mit welchem Träger eine Vereinbarung über die Bereitstellung eines Inobhutnahmeplatzes getroffen wird, soll sich an folgenden Kriterien orientieren:

 

§  Konzeption und Betriebserlaubnis

Kinder und Jugendliche in Krisensituationen brauchen Schutz, Verlässlichkeit und Orientierung. Neben der Sicherstellung der Grundversorgung muss auch ihrem Bedürfnis nach Zuwendung, Verständnis und Aufmerksamkeit nachgekommen werden. Darüber hinaus muss die Einrichtung die notwendige Fachkompetenz für eine Diagnostik und die Entwicklung einer (vorläufigen) Perspektive vorhalten. Das Konzept muss die Zustimmung des Landesjugendamtes finden, denn sonst fehlt die zwingend erforderliche Betriebserlaubnis. Es muss aber auch mit den drei Jugendämtern abgestimmt sein, besonders auch, was konkrete Verfahrensabläufe betrifft.

 

§  Entfernung

Die Unterbringungsstelle sollte idealerweise gut erreichbar sein und in nicht allzu großer Entfernung liegen. Das ist nicht nur in der Akutsituation bei einer Zuführung von Vorteil, sondern auch für die nachfolgende Fallbearbeitung, z. B. für Klärungsgespräche unter Beteiligung von Eltern.

 

 

 

 

§  Vorhandensein von Anschlussplätzen

Den Jugendämtern ist wichtig, dass der Träger nicht nur den Inobhutnahmeplatz zur Verfügung stellt, sondern auch möglichst differenzierte Möglichkeiten für Anschlussperspektiven bietet. Das kann ein Platz in einer Diagnosegruppe, in einer Gruppe des selbständigen betreuten Wohnens oder eine befristete Heimunterbringung mit einem Clearingauftrag sein. Schließlich sind Inobhutnahmen häufig Ausgangspunkt oder Zwischenstation weiterer Hilfen.

 

§  Bereitstellungskosten und Kosten bei Belegung

Die Leistung muss dem formulierten Bedarf entsprechen. Dabei muss das Verhältnis zwischen Preis und Leistung stimmen.

 

 

§  Erfahrungen in der konkreten Zusammenarbeit

Darüber hinaus sollen die von den drei Jugendämtern mit dem jeweiligen Träger gemachten Erfahrungen in der Zusammenarbeit in die Bewertung einfließen.

 

III. Alternativen

Die Möglichkeit der bedarfsgerechten und ortsnahen Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen über 6 Jahren ist nicht gesichert.

 

IV. Auswirkungen / Zusammenhänge (Finanzen, Personal, IT, sonstige Ressourcen)

 

Für den Haushaltsentwurf 2020 sind vorsorglich 97.820€ für die Beteiligung des Kreises Coesfeld an der pauschalen Platzbeschaffung für Inobhutnahmen vorgesehen worden. Abgedeckt werden damit die Bereitstellungskosten für die Tage, an denen die Plätze nicht benötigt werden. Die Aufteilung orientiert sich wie auch sonst in der Zusammenarbeit der drei Jugendämter an der Einwohnerstärke. Bei tatsächlicher Inanspruchnahme der Plätze werden die Kosten vom jeweils belegenden Jugendamt übernommen und es erfolgt eine jährliche Spitzabrechnung.

 

V.  Zuständigkeit für die Entscheidung

 

Nach § 71 Abs. 2 SGB VIII in Verbindung mit § 5 Abs. 2 Ziffer 1 ist der Jugendhilfeausschuss für die Entscheidung zuständig.



[1] Es fand in Notfällen auch schon mal eine Aufnahme über die genehmigte Platzzahl hinaus statt, wofür nachträglich die Genehmigung des Landesjugendamtes eingeholt werden musste.