Beschlussvorschlag:
Die Verwaltung wird beauftragt, mit der Stadt Coesfeld und der Stadt
Dülmen als Träger der öffentlichen Jugendhilfe mit Trägern von stationären
Hilfen zur Erziehung Vereinbarungen abzuschließen mit dem Tenor, dass bei
anteiliger Finanzierung den Jugendämtern zwei Inobhutnahmeplätze für die
kurzfristige Inanspruchnahme fest zur Verfügung gestellt werden.
Begründung:
I. Problem
In der Jugendhilfeausschusssitzung am 09.09.2019 wurde mitgeteilt, dass
die drei Jugendämter im Kreis Coesfeld beabsichtigen, gemeinsam zwei Plätze für
die Inobhutnahme fest zu buchen, um auch zukünftig dem kurzfristigen und mit einem
Rechtsanspruch versehenen Bedarf entsprechen zu können.
Rechtsgrundlage
Die zentrale Rechtsgrundlage findet sich in § 42 SGB VIII: Inobhutnahme
von Kindern und Jugendlichen, hier in Auszügen zitiert:
(1)
Das Jugendamt ist berechtigt und verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen
in seine Obhut zu nehmen, wenn
1.
das Kind oder der Jugendliche um Obhut bittet oder
2.
eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen die
Inobhutnahme erfordert und
a)
die Personensorgeberechtigten nicht widersprechen oder
b)
eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann (…).
Die
Inobhutnahme umfasst die Befugnis, ein Kind oder einen Jugendlichen bei einer
geeigneten Person, in einer geeigneten Einrichtung oder in einer sonstigen
Wohnform vorläufig unterzubringen (…).
(2)
Das Jugendamt hat während der Inobhutnahme die Situation, die zur Inobhutnahme
geführt hat, zusammen mit dem Kind oder dem Jugendlichen zu klären und
Möglichkeiten der Hilfe und Unterstützung aufzuzeigen (…). Das Jugendamt hat
während der Inobhutnahme für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen zu
sorgen und dabei den notwendigen Unterhalt und die Krankenhilfe sicherzustellen
(…). Das Jugendamt ist während der Inobhutnahme berechtigt, alle
Rechtshandlungen vorzunehmen, die zum Wohl des Kindes oder Jugendlichen
notwendig sind (…).
Die Vorschrift regelt die rechtlichen und fachlichen Anforderungen an
eine zeitlich begrenzte Krisenintervention (Inobhutnahme) durch das Jugendamt
und gibt dem Jugendamt die Befugnis sowie die Pflicht zum elternunabhängigen unmittelbaren Handeln zum
Schutz des Kindes oder Jugendlichen in Eil- und Notfällen. Die
Inobhutnahme vereinigt damit Leistungs- und Eingriffsaspekte.
Ausgangslage
In der Vergangenheit wurden Inobhutnahmen in Abstimmung mit den beiden
anderen Jugendämtern im Kreis Coesfeld vorwiegend im Alexianer Martinistift in
Nottuln-Buxtrup (Jungen ab 12 Jahre) und in der Kiwo Jugendhilfe Dülmen (Kinder
bis 12 Jahre, Mädchen ab 12 Jahren) durchgeführt. Dies erfolgte über viele
Jahre recht zufriedenstellend, allerdings nie auf Grundlage einer schriftlichen
Vereinbarung, obwohl es dazu schon Ende der 90er Jahre Bestrebungen gab. Bestanden
bei den genannten Trägern keine Aufnahmekapazitäten, wurden weitere Träger
außerhalb des Kreises angefragt.
In den letzten Jahren wurde immer deutlicher, dass Inobhutnahmen nicht
nur im Einzelfall, sondern auch strukturell immer intensiver, anspruchsvoller
und schwieriger sicherzustellen sind. Die zwar nicht verschriftlichte, aber
über viele Jahre gewachsene und verlässliche Kooperation der drei öffentlichen
mit den zwei freien Trägern erweist sich mittlerweile als nicht mehr
ausreichend, um den rechtlichen und fachlichen Anforderungen gerecht zu werden.
Dies wurde unter dem Stichwort der Sicherstellung der Inobhutnahmen von
Kindern unter 6 Jahren im Kreis Coesfeld im Ausschuss am 27.11.2018 (SV-9-1230)
für diese Zielgruppe thematisiert. Damals wurde die Verwaltung beauftragt, mit
den Jugendämtern des Kreises Coesfeld und der Stadt Dülmen eine Vereinbarung
abzuschließen mit dem Tenor, dass beim Jugendamt des Kreises Coesfeld die
Organisation und Einsatzplanung von familienanalogen Bereitschaftspflegestellen
jugendamtsübergreifend für den gesamten Kreis Coesfeld gebündelt wird. Diese
Maßnahme ist zum 01.01.2019 umgesetzt worden.
Folgende zentrale Entwicklungen bzw. Erkenntnisse kennzeichnen die
Problematik:
§ Inobhutnahmeplätze finden
Es ist immer schwieriger, für ältere Kinder/Jugendliche kurzfristig
Inobhutnahmeplätze zu finden. Wenn im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) ein
Jugendlicher unterzubringen ist, müssen oft viele Träger und Stellen angerufen
werden. Häufige Antwort ist, dass alle verfügbaren Plätze belegt sind oder
auch, dass für diesen Jugendlichen mit seiner spezifischen Problematik kein
konkretes Angebot gemacht werden kann.
Dies ist keine singuläre Erfahrung des ASD. Auch der beim Kiwo
angesiedelte Bereitschaftsdienst hat signalisiert, große Probleme zu haben,
wenn es um die Unterbringung von älteren Kindern und Jugendlichen geht.
§ Inobhutnahme im Einzelfall gestalten
Das Kinderwohnheim und das Martinistift haben angezeigt, dass es für sie
zunehmend problematischer wird, Inobhutnahmen geeignet zu gestalten. Wenn ein
junger Mensch aus einer Krisensituation heraus in Obhut genommen wird, befindet
er sich selbst in einer Krise, und er verhält sich nicht selten selbst
kritisch. Das lässt sich nicht durchgängig in Regelgruppenstrukturen mit
zusätzlichem Personal für den Zweck der Inobhutnahme auffangen. Für die Gruppe
bedeutet die ungeplante Aufnahme eine große Herausforderung. Es ist schwierig,
in einer solchen Situation allen Bewohnerinnen und Bewohnern gerecht zu werden.
Auch umgehend zusätzliches Personal zu akquirieren ist für die Träger nicht
einfach.
§ Vorgaben im Rahmen der
Betriebserlaubnis
Inobhutnahmeplätze bei freien Trägern der Jugendhilfe bedürfen der
Betriebserlaubnis gem. § 45 SGB VIII. Bislang fanden die Inobhutnahmen im
Kinderwohnheim, im Martinistift oder auch bei anderen Trägern im Wesentlichen
auf so genannten „eingestreuten Plätzen“ statt. Es handelt sich dabei um
unbelegte Plätze in Regelgruppen[1].
Dies wurde zunehmend kritisch gesehen, nicht nur von den Heimträgern, sondern
auch vom betriebserlaubniserteilenden Landesjugendamt. Die grundlegende
Position des Landesjugendamtes ist, keine Inobhutnahme mehr zuzulassen in
Gruppen, in denen der Verbleib der Bewohner langfristig, d.h. auf Beheimatung,
angelegt ist. Damit ist die langjährige Praxis der eingestreuten Plätze in
Regelgruppen als strukturelles Angebot nicht mehr möglich.
Die Problematik ist im Übrigen nicht Kreis Coesfeld spezifisch. Vielen Jugendämtern
fehlen geeignete oder ausreichende Plätze.
II. Lösung
Die drei Jugendämter sind sich einig, dass der Bedarf nicht
rechtfertigt, im Kreis Coesfeld eine eigene Gruppe z. B. als Jugendschutzstelle
aufzubauen. Diese Ansicht wird auch vom Landesjugendamt, das in den Prozess
involviert ist, geteilt.
Für den Zeitraum vom 01.01.2017 bis 05.12.2018, also knapp zwei Jahre,
waren für die drei Jugendämter zusammen 86 Inobhutnahmen zu verzeichnen. Bei
einer durchschnittlichen Dauer von 6,4 Tagen ergibt sich damit eine
Belegungsdauer von ca. 1,5 Jahren. Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine hohe
Fluktuation gegeben ist, zeitgleich mehrere Inobhutnahmen vorkommen können und
die Altersspanne von 7 bis 17 Jahren abzudecken ist. Ein achtjähriges Mädchen hat
einen ganz anderen Bedarf als ein 16-jähriger Junge und braucht einen anderen
Hilferahmen.
Daraus ermittelt sich der Bedarf an zwei Plätzen: Ein Platz für Kinder
bis 12 bzw. 13 Jahren sowie ein weiterer Platz für minderjährige Jugendliche.
Im laufenden Jahr wurden seitens des Kreisjugendamtes bereit 49
Inobhutnahmen von Kindern und Jugendlichen im Altern von 0-17 in
unterschiedlichen Einrichtungen und bei geeigneten Personen durchgeführt.
In der kreisweiten AG 78 Hilfen zur Erziehung am 23.05.2019 wurden die
Mitglieder über das Interesse der öffentlichen Träger an pauschal finanzierten
Inobhutnahmeplätzen informiert. Darüber hinaus sind sie und weitere freie
Träger mit geeignetem Platzangebot schriftlich aufgefordert worden,
entsprechende Angebote zu unterbreiten.
Mittlerweile liegen mehrere Angebote und Konzepte vor, die sich zum Teil
noch in der Abstimmung mit dem Landesjugendamt befinden.
Die Entscheidung der drei Jugendämter, mit welchem Träger eine
Vereinbarung über die Bereitstellung eines Inobhutnahmeplatzes getroffen wird,
soll sich an folgenden Kriterien orientieren:
§ Konzeption
und Betriebserlaubnis
Kinder und Jugendliche in Krisensituationen brauchen
Schutz, Verlässlichkeit und Orientierung. Neben der Sicherstellung der
Grundversorgung muss auch ihrem Bedürfnis nach Zuwendung, Verständnis und
Aufmerksamkeit nachgekommen werden. Darüber hinaus muss die Einrichtung die
notwendige Fachkompetenz für eine Diagnostik und die Entwicklung einer
(vorläufigen) Perspektive vorhalten. Das Konzept muss die Zustimmung des
Landesjugendamtes finden, denn sonst fehlt die zwingend erforderliche Betriebserlaubnis.
Es muss aber auch mit den drei Jugendämtern abgestimmt sein, besonders auch,
was konkrete Verfahrensabläufe betrifft.
§ Entfernung
Die Unterbringungsstelle sollte idealerweise gut
erreichbar sein und in nicht allzu großer Entfernung liegen. Das ist nicht nur
in der Akutsituation bei einer Zuführung von Vorteil, sondern auch für die
nachfolgende Fallbearbeitung, z. B. für Klärungsgespräche unter Beteiligung von
Eltern.
§ Vorhandensein
von Anschlussplätzen
Den Jugendämtern ist wichtig, dass der Träger nicht
nur den Inobhutnahmeplatz zur Verfügung stellt, sondern auch möglichst
differenzierte Möglichkeiten für Anschlussperspektiven bietet. Das kann ein
Platz in einer Diagnosegruppe, in einer Gruppe des selbständigen betreuten
Wohnens oder eine befristete Heimunterbringung mit einem Clearingauftrag sein.
Schließlich sind Inobhutnahmen häufig Ausgangspunkt oder Zwischenstation
weiterer Hilfen.
§ Bereitstellungskosten
und Kosten bei Belegung
Die
Leistung muss dem formulierten Bedarf entsprechen. Dabei muss das Verhältnis
zwischen Preis und Leistung stimmen.
§ Erfahrungen
in der konkreten Zusammenarbeit
Darüber
hinaus sollen die von den drei Jugendämtern mit dem jeweiligen Träger gemachten
Erfahrungen in der Zusammenarbeit in die Bewertung einfließen.
III. Alternativen
Die Möglichkeit der bedarfsgerechten und ortsnahen Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen über 6 Jahren ist nicht gesichert.
IV. Auswirkungen / Zusammenhänge (Finanzen, Personal, IT, sonstige Ressourcen)
Für den Haushaltsentwurf 2020 sind vorsorglich 97.820€ für die
Beteiligung des Kreises Coesfeld an der pauschalen Platzbeschaffung für
Inobhutnahmen vorgesehen worden. Abgedeckt werden damit die
Bereitstellungskosten für die Tage, an denen die Plätze nicht benötigt werden.
Die Aufteilung orientiert sich wie auch sonst in der Zusammenarbeit der drei
Jugendämter an der Einwohnerstärke. Bei tatsächlicher Inanspruchnahme der
Plätze werden die Kosten vom jeweils belegenden Jugendamt übernommen und es
erfolgt eine jährliche Spitzabrechnung.
V. Zuständigkeit für die Entscheidung
Nach § 71 Abs. 2 SGB VIII in Verbindung mit § 5 Abs. 2 Ziffer 1 ist der Jugendhilfeausschuss für die Entscheidung zuständig.
[1] Es fand in Notfällen auch schon mal eine Aufnahme über die genehmigte Platzzahl hinaus statt, wofür nachträglich die Genehmigung des Landesjugendamtes eingeholt werden musste.