Grundlagen 1: Geschichtswissenschaft

Methode: Bedeutung der Lokal- und Regionalgeschichte

"Über lange Zeit stand die regionale Geschichte des Nationalsozialismus im Fokus, aktuell wird vielmehr danach gefragt, welchen Beitrag die Regionalforschung für die Erforschung des Nationalsozialismus insgesamt leisten kann. Die Fragen zur regionalen Geschichte des Nationalsozialismus sind auf die Aufklärung der politischen, gesellschaftlichen und staatlichen Hintergründe der regionalen Ereignisse, sprich die umfassende Einordnung der genannten Menschenschicksale unter besonderer Beachtung der Täter ausgerichtet. Hier geht es auch darum, die Hauptthemen der inzwischen gut erforschten Geschichte des Nationalsozialismus insgesamt in der eigenen Region abzubilden. Die Fragen nach der Funktion und den originären Beiträgen regionalgeschichtlicher Forschung zur NS-Forschung insgesamt sind eher wissenschaftsgeschichtlich zu verorten und in geschichtspolitische Zusammenhänge eingebettet."

Zu den klassischen Untersuchungsfeldern, wie Verfolgung der jüdischen Mitbürger, kommunistischer und kirchlicher Widerstand und die Rolle und Funktion der Landräte, die sich durch umfassende Forschungen zum Standardrepertoire der NS-Forschung auf den verschiedenen Ebenen von Staat und Gesellschaft entwickelt haben, kann man weitere Themen hinzuzählen. "Genannt seien nur die Stichworte: ´Gleichschaltung` bzw. ´Selbstgleichschaltung`, Etablierung der nationalsozialistischen Diktatur, traditionelle und neue Eliten, Verfolgung politischer Gegner, Kommunalverwaltung in der NS-Zeit, Ausgrenzung von ´Minderwertigen`, Gesellschaft im Krieg, ´Heimatfront`, Einsatz von Zwangsarbeitern oder Bombenkrieg. Schon ein kurzer Blick in die Veröffentlichungen zur Geschichte der Städte und Gemeinden der eigenen Region bestätigt die Relevanz dieser Themen. Auch die Region des heutigen Kreises Coesfeld konnte sich der Gesamtentwicklung in der NS-Zeit nicht entziehen.

Die Analysen der Lokal- und Regionalstudien zeigen jedoch auch die Gefahr dieser durchaus tiefenscharfen Untersuchungsansätze. Nicht selten führen sie zur ´Verinselung` und laufen Gefahr, die größeren Zusammenhänge aus dem Blick zu verlieren und einen ´Gegensatz zwischen Reich und Region bzw. Zentrale und Peripherie zu konstruieren`.

Forschungen zur Regionalgeschichte sind in regionale Vergleiche oder übergeordnete Zusammenhänge auf der Landes- und Reichsebene einzuordnen, die Mikroebene ist mit der Meso- und Makroebene zusammenzuführen.

Der Nutzen dieser Verknüpfung der Ebenen wird durch konkrete Fragestellungen sichtbar: Wo bestimmten besondere Ereignisse in der Region eine Entwicklung, wo die Zentrale? Brachen sich zentrale Vorgaben an regionalen und lokalen Bedingungen? Wie ist das Gewicht/Maß/Verhältnis von Strukturen und Einzelpersonen bei der Beschleunigung oder Verlangsamung von Prozessen auf verschiedenen Ebenen zu bewerten? Sind Kontinuitäten oder Diskontinuitäten bei Werturteilen, Haltungen, Handlungen oder Reaktionen festzustellen? Nur so können mögliche Ungleichzeitigkeiten, vielleicht sogar Brüche der Gesamtentwicklung auf den verschiedenen Verwaltungsebenen oder zwischen Regionen festgestellt werden."

Formuliert und zitiert nach dem Text in: Walter, Bernd: Das NS-Regime – Kollegen und Nachbarn. Die Kreise Coesfeld und Lüdinghausen in der Zeit des Nationalsozialismus (Beiträge zur Landes- und Volkskunde des Kreises Coesfeld Band 30), Münster 2024, S. 2f., dort werden auch die Zitate im Text belegt.

Bisherige Funktion der Regionalgeschichte in der NS-Forschung

"Der Boom an lokal- und regionalgeschichtlichen Studien zur Geschichte des Nationalsozialismus seit den 1970er Jahren erklärt sich zum einen durch die anhaltende Kritik an der monolithischen Sichtweise auf den NS-Staat. Erst diese Studien mit sozial- und alltagsgeschichtlichem Ansatz eröffneten eine Perspektive von ´unten`. Vor Ort treffen Partei, Staat und Gesellschaft, Akteure und Milieus aufeinander. Daher können insbesondere hier die Grenzen der totalitären Herrschaft und die Wirkung ideologiegeprägter Politik ausgemessen und im sozialen Spannungsfeld wie unter einem Brennglas betrachtet werden. Zum anderen förderte die Konjunktur der ´Oral History` diese Entwicklung, die vor allem durch Zeitzeugen-Befragungen einen Zugang zur ´echten` Geschichte aufzeigen wollte. Es ging um die Erfahrungen der ´kleinen Leute` mit der Repression und Verfolgung, mit Widerstand und persönlicher Widerstandskraft, mit Anpassung und Verweigerung. 

Eine Bilanz von vier Jahrzehnten lokal- und regionalgeschichtlicher Forschungen zum Nationalsozialismus benennt drei zentrale Ansätze, die ´das Potential einer Perspektive auf Prozesse vor Ort`, insbesondere der Analysen zum ´kleinen` sozialen Raum noch einmal deutlich machen: In einer ersten Variante dient der Blick auf den überschaubaren Raum der Analyse von Fragestellungen, die aus der allgemeinen Forschung zur NS-Zeit gewonnen werden. Dieses eher traditionelle Forschungsinteresse und seine Fragen wie nach der Durchsetzung der NS-Herrschaft, nach dem Verhältnis von Partei und Staatsverwaltung oder den Möglichkeiten von Verweigerung und Widerstand gelten nicht dem Raum an sich, sondern haben exemplarischen Charakter.

Das gilt auch für Forschungen zu lokalen und regionalen Besonderheiten, zu kleinräumigen Identitäten und Traditionen und deren Auswirkung auf das politische Verhalten. In dieser zweiten Variante geht es ebenfalls eher um allgemeingültige Erkenntnisse, allerdings unter Beachtung der unterschiedlichen Voraussetzungen für die Durchsetzung der NS-Herrschaft. Welche lokalen und regionalen Faktoren wirkten begünstigend oder hemmend auf die Durchsetzung, welche konnten dadurch den Totalitätsanspruch begrenzen?

Der dritte Ansatz bündelt vor allem Fragestellungen, die mit Ertrag nur im ´kleinen Raum` als Sozialraum beantwortet werden können. In diesem Ansatz bekommen die ´kleinen` Räume eine eigene Qualität und werden als ´eigenständiger Denk- und Handlungsrahmen` der Menschen ernst genommen, die dort leben. In ihrer alltäglichen Lebenswelt kann der Zusammenhang von Nationalsozialismus und Gesellschaft in seiner ganzen Dimension erforscht werden, denn der ´kleine Raum` eröffnet die Möglichkeit, die Vielfalt der Faktoren miteinander zu kombinieren, die den historischen Prozess beeinflussen. Als besonders ertragreich haben sich auf diesem Forschungsfeld alltags-, mentalitäts- und milieuorientierte Forschungsansätze erwiesen.

Das Bewusstsein über das besondere Erkenntnispotential der Lokal- und Regionalgeschichte hat in den vergangenen zwanzig Jahren insbesondere die ´Volksgemeinschafts`-Forschung beflügelt." 

Formuliert und zitiert nach dem Text in: Walter, Bernd: Das NS-Regime – Kollegen und Nachbarn. Die Kreise Coesfeld und Lüdinghausen in der Zeit des Nationalsozialismus (Beiträge zur Landes- und Volkskunde des Kreises Coesfeld Band 30), Münster 2024, S. 5f., dort werden auch die Zitate im Text belegt.

 

Aktuelle Fragestellungen: "Volksgemeinschaft"?

"In Verbindung mit den großen struktur- und sozialgeschichtlichen Linien der Herrschaftsgeschichte des Nationalsozialismus hat die ´Volksgemeinschafts`-Forschung wichtige Bausteine für eine Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus geliefert. Ausgehend von der Frage, ´welche Faktoren jenseits von Gewalt und Terror zusätzliche Wirkung entfaltet und dem NS-Regime seine erstaunliche und beängstigend hohe Integrationskraft verliehen` haben, wurde ein Forschungsspektrum ausgebreitet, das neue Perspektiven auf die Lebensbedingungen in der NS-Zeit eröffnet hat.  Sie umfassen die bisher vernachlässigten Bindekräfte und Beteiligungsformen wie die Bedingungen, unter denen sich die ´Volksgenossen` das Denken und die Erwartungen der Nationalsozialisten aneigneten. Sie beachten Prozesse der Selbstmobilisierung oder Aktionen der Machthaber, Konsens zu produzieren, aber auch Maßnahmen der NS-Politik zur gesellschaftlichen Ausgrenzung vor Ort. Die Forschungen unter dem Leitbegriff ´Volksgemeinschaft` haben also die Funktion, ´Phänomene wie die gesellschaftliche Bindekraft der NS-Herrschaftspraxis, die Disposition der Bevölkerung für die nationalsozialistische Verheißungs-Politik und hieraus resultierend die im Ergebnis erstaunliche Mobilisierungsfähigkeit des Regimes in das Blickfeld zu rücken.`  Wird der Leitbegriff ´Volksgemeinschaft` mit dem Leitbegriff ´Mobilisierung` verknüpft, so wird der dynamische Charakter der gesellschaftlichen Entwicklung besonders betont. [...]

Folgende Perspektiven dürfen bei der Untersuchung auf keinen Fall vernachlässigt werden: die Strukturen und Grenzen der propagierten Vergemeinschaftungen, die Auflösung und Zerstörung von Gemeinschaftsformen und Gemeinschaften, die Fortdauer von sozialen Prozessen individuellen Handelns im Verhältnis zu Gemeinschaftsformen, von Einzelinteressen und Individualstrategien, das Verhältnis von Privatem und Öffentlichem, generationsbedingte und geschlechtliche Unterschiede oder Kontinuitäten bzw. Diskontinuitäten von Sozialformen ´längerer Dauer`. Das gilt insbesondere für lokale Sozialräume und landwirtschaftlich geprägte Lebenswelten und Dörfer, die in den 1930er/1940er Jahren auch im Untersuchungsraum dieser Studie vorherrschend sind."

Formuliert und zitiert nach dem Text in: Walter, Bernd: Das NS-Regime – Kollegen und Nachbarn. Die Kreise Coesfeld und Lüdinghausen in der Zeit des Nationalsozialismus (Beiträge zur Landes- und Volkskunde des Kreises Coesfeld Band 30), Münster 2024, S. 6f., dort werden auch die Zitate im Text belegt. 

Ausgewählte Forschungen zum Nationalsozialismus in der Region