Grundlagen 2: Voraussetzungen, Informationen, Karten

Kreis Coesfeld und Kreis Lüdinghausen 1933

Die Karten sind abgedruckt in: Walter, Bernd: Das NS-Regime – Kollegen und Nachbarn. Die Kreise Coesfeld und Lüdinghausen in der Zeit des Nationalsozialismus (Beiträge zur Landes- und Volkskunde des Kreises Coesfeld Band 30), Münster 2024, S. 8 und 23.

Industrialisierung in der Region

Industrialisierung im Kreis Coesfeld

"Der Kreis Coesfeld gehörte wie die Kreise Ahaus, Borken, Steinfurt und Bentheim zur Textilregion Westmünsterland. Der dynamische Aufschwung seit dem Ende des 19. Jahrhunderts profitierte von der in der Region verwurzelten Leinenproduktion als Heim- und Nebengewerbe, der staatlichen Schutzzollpolitik und dem Ausbau des Eisenbahnnetzes, das die Versorgung mit Kohle und Rohbaumwolle und den Vertrieb von Produkten im Ruhrgebiet erleichterte. Bis 1934 stieg die Region mit 24 % der Baumwollspindeln und 21% der Baumwollwebstühle Deutschlands zur größten Baumwollregion des Deutschen Reiches auf. Außerdem entstanden einige Maschinenbaubetriebe als Zulieferer für die Textilindustrie und Wäsche- und Bekleidungsfirmen zur Weiterverarbeitung der gewebten Stoffe.

Im Kreis Coesfeld arbeiteten in den 1930er Jahren zwei Drittel aller Industrie-Beschäftigten in den 14 Betrieben der Textilbranche. Diese Spinner- und Webereien hatten sich in Gescher (6), Coesfeld (4), Dülmen (3) und Billerbeck (1) angesiedelt und beherrschten in diesen Städten die Arbeitswelt. Der größte Teil der über 3.100 Beschäftigten war in vier Großbetrieben angestellt: der Firma H. & J. Huesker in Gescher mit ca. 800 Arbeitnehmern, der Firma Bendix in Dülmen mit ca. 1.100 und den Coesfelder Firmen A. Crone & Co. und August Kolck & Co. mit etwa 320 bzw. 280 Arbeitnehmern.

Hinsichtlich der ökonomisch-sozialen Lage und der gesellschaftlichen Verortung war die Arbeiterschaft in der Textilindustrie des Westmünsterlandes, und hier sind auch Branchen wie die Metallverarbeitung teilweise mit einzubeziehen, durch einige besondere Lebensbedingungen geprägt. Durch die kontinuierliche Expansion über Jahrzehnte und die dezentrale Industriestruktur konnte der Bedarf an Arbeitskräften weitgehend aus der Region gedeckt werden. Sie stammten aus der sogenannten Schicht der ´Acker-Bürger` oder ´Arbeiter-Bauern`, die zum überwiegenden Teil in der ländlichen Region ansässig waren, zumeist Wohnungen und einige Morgen Ackerland besaßen. Dadurch waren sie in der Lage konjunkturbedingte Krisensituationen und Notlagen über die Nebenerwerbslandwirtschaft und eine in geringem Umfang betriebene Viehhaltung zu überstehen. Vor allem blieben sie aber in die ländlich-bäuerliche bzw. ländlich-kleinstädtische Lebenswelt eingebunden, die stark von kirchlich-katholischen Traditionen, Werten und Einrichtungen geprägt war.

Diese gesellschaftliche Integration änderte allerdings nichts an den gesundheitsschädigenden Arbeitsbedingungen in den Textilfabriken bei staubiger Luft, nervenaufreibendem Lärm der Maschinen und Wechselschicht und das bei niedrigen Löhnen. Der Umfang der Textilproduktion hatte auch im Kreis Coesfeld eine hohe Frauenerwerbsquote von fast einem Drittel der in der Textilindustrie Beschäftigten zur Folge. Bei einer Doppelbelastung durch Fabrik- und Hausarbeit bei noch niedrigeren Löhnen klagten Textilarbeiterinnen über ´ein deutliches Gefühl des Ausgeliefertseins an die Verhältnisse`."

Formuliert und zitiert nach dem Text in: Walter, Bernd: Das NS-Regime – Kollegen und Nachbarn. Die Kreise Coesfeld und Lüdinghausen in der Zeit des Nationalsozialismus (Beiträge zur Landes- und Volkskunde des Kreises Coesfeld Band 30), Münster 2024, S. 16-18, dort werden auch die Zitate im Text belegt.

 

Industrialisierung im Kreis Lüdinghausen

"Schrittmacher für die Industrialisierung des Landkreises Lüdinghausen war der Bergbau. Sie begann mit dem Abteufen der Schächte Werne 1 und 2 im Jahr 1899. Die Zeche Werne, die drei Jahre später die Förderung von Steinkohle aufnahm, war das erste Bergwerk im Ruhrrevier nördlich der Lippe. 1907 begann die Zeche Radbod in den Gemeinden Bockum und Hövel mit der planmäßigen Förderung von Steinkohle. Sie hatte 1928 etwa 2.500 Beschäftigte. Die erste Kohle auf der Zeche Hermann in Selm wurde 1909 gefördert, nachdem die Kohlelagerstätten mit zwei Schächten erschlossen waren. Bis in die 1920er Jahre erreichte der Abbau des Bergwerks eine Tiefe von 1.100 Metern mit schwierigsten Betriebs- und Abbauverhältnissen. Insbesondere die große Hitze stellte für die Bergleute eine große Belastung dar. Eine Kokerei mit 160 Koksöfen (1914) ergänzte den Zechenstandort. 1925 brachte das Bergwerk erstmals mit einer Belegschaftsstärke von 3.359 Beschäftigten eine maximale Kohleförderung von mehr als einer halben Millionen Tonnen Steinkohle hervor. Trotzdem wurde die Zeche Mitte Juli 1926 aufgrund der extremen, unwirtschaftlichen Abbauverhältnisse stillgelegt.

Die Ansiedlung der Zechen hatte extreme Auswirkungen auf die weitere Entwicklung der Standortgemeinden. Mit der Abteufung der Schächte erlebten sie innerhalb eines Jahrzehnts eine Bevölkerungsexplosion, bei der an einen kontinuierlichen Aufbau von Versorgungsstrukturen und Wohnsiedlungen nicht zu denken war. In der Kleinstadt Werne mit ihrem Umland verlief dieser Prozess mit einer Verdoppelung der Einwohnerzahlen noch verhältnismäßig moderat, da ein Großteil des Arbeitskräftepotentials noch aus der Region gedeckt werden konnte. Dennoch bestimmten der Bergbau und die Zechenbelegschaft die wirtschaftliche Entwicklung und Sozialstruktur der Städte. Aufgrund der zerstreut liegenden Siedlungsgebiete konnten keine urbanen Strukturen entstehen.

Die Erschließung der Zeche Radbod in den Gemeinden Bockum und Hövel mit eng bebauten Dorfkernen und landwirtschaftlichem Hinterland machte diese Orte zu Industriedörfern. Der Bevölkerungszuwachs in Bockum von gut 1.100 auf über 5.600 Einwohner und in Hövel von gut 1.000 auf fast 7.200 Einwohner von 1905 bis 1913 durch europaweit angeworbene Arbeitskräfte traf auf eine völlig unzureichende Infrastruktur und führte zu prekären Wohnverhältnissen. Die Situation in der Gemeinde Selm entwickelte sich ähnlich. Hier stieg die Einwohnerzahl im gleichen Zeitraum von gut 1.770 auf über 7.110 Einwohner und erreichte 1925 mit 11.600 Einwohnern einen Spitzenwert. Zur Unterbringung der Bergleute entstand neben dem Dorf Selm die Siedlung ´Beifang` als Zechenarbeiterkolonie.

Wie im gesamten Kreis Lüdinghausen bestand in den industrialisierten Gemeinden eine stark von kirchlich-katholischen Traditionen geprägte Lebenswelt. Durch den Zuwachs der Einwohner mit protestantischer Konfession auf rund ein Drittel in Bockum und Hövel und fast 30 % in Selm hatte die katholische Konfession jedoch ihre Dominanz verloren. Unter diesen Voraussetzungen konnten sich hier im Gegensatz zu den industrialisierten Gemeinden im Kreis Coesfeld protestantisch und sozialistisch geprägte Lebenswelten herausbilden. Ob und wie stark sich diese Lebenswelten zu ausgeprägten handlungsbestimmenden Milieus ausbilden konnten, sollte sich insbesondere am Verhalten wie der Streikbereitschaft oder den Wahlentscheidungen in wirtschaftlichen und politischen Krisensituationen zeigen. Die seit 1925 in der Textilindustrie periodisch und in immer kürzeren Abständen wiederkehrenden Krisen, die dann mit der Weltwirtschaftskrise auch den Bergbau erfassten, lassen sich an den Arbeitslosenzahlen ablesen. Obwohl die Textilbetriebe die Arbeitslosigkeit durch fortgesetzte Kurzarbeit zu begrenzen versuchten, stieg sie bis Ende 1933 auf 90 % der Textilarbeiter im Münsterland. In den Bergbaugemeinden Werne waren am 1. April 1931 573 Personen und in Selm 976 Personen Hauptunterstützungsempfänger in der Arbeitslosenunterstützung." 

Formuliert und zitiert nach dem Text in: Walter, Bernd: Das NS-Regime – Kollegen und Nachbarn. Die Kreise Coesfeld und Lüdinghausen in der Zeit des Nationalsozialismus (Beiträge zur Landes- und Volkskunde des Kreises Coesfeld Band 30), Münster 2024, S. 18f., dort werden auch die Zitate im Text belegt.

 

Ländliche Gesellschaft und Landwirtschaft in den Kreisen Coesfeld und Lüdinghausen

"Die Landwirtschaft und das Gewerbe bildeten die wirtschaftliche Grundlage der ländlichen Gesellschaft. Sie umfasste fast die Hälfte der Bevölkerung der Kreise Coesfeld und Lüdinghausen. Die Verfügung über Haus- und Landbesitz, eine weitgehend konfessionell homogene Bevölkerung, eine starre soziale Schichtung mit einer geringen sozialen, beruflichen und regionalen Mobilität bestimmten das Zusammenleben. Die Landgemeinden boten dennoch kein einheitliches Bild: Sie unterschieden sich aufgrund des Anteils der hauptberuflich in der Landwirtschaft Beschäftigten, der Größe der landwirtschaftlichen Betriebe, dem Grad der gewerblichen Prägung und dem Grad industrieller Einflüsse z.B. durch Pendlerströme in Regionen mit Industrie oder die Ansiedlung von kleinen Industriebetrieben vor Ort. Dadurch existierten neben den sogenannten Agrargemeinden auch stärker gewerblich oder industriell geprägte Landgemeinden.

Das Dorf bildete das Zentrum der ländlichen Gesellschaft und stellte die vorrangige ländliche Siedlungseinheit dar. Hier fielen in einer räumlichen Verdichtung das Leben, Arbeiten und Gemeinschaftsleben der Bewohner der umliegenden Bauernschaften zusammen. Die Überschaubarkeit des Sozialraumes Dorf bot direkte, personale Möglichkeiten für Gespräche und Beziehungspflege und damit identitätsstiftende Geborgenheit, erleichterte allerdings auch die soziale Kontrolle. Die Dorfgesellschaft selbst funktionierte auf der Basis von patriarchalischen Strukturen. Die selbständige Verfügbarkeit über Grund und Boden und der eng damit verwobene Faktor Verwandtschaft bestimmten den gesellschaftlichen Status und die soziale Platzierung in der Dorfgesellschaft. Sie bestimmten auch den Rahmen für die Teilhabe an der politischen Herrschaft und den Kreis der zukünftigen Lebenspartner. Hier gaben jedoch die Besitzverhältnisse eine Skala vor, an der sich die eigenen gesellschaftlichen Ambitionen zu orientieren hatten, denn die ländliche Gesellschaft war nicht homogen.

In den Dörfern lassen sich aufgrund des Landbesitzes drei Schichten ausmachen: eine Ober-, eine Mittel- und eine Unterschicht. Die Oberschicht bestand aus den großbäuerlichen Betrieben mit mehr als 20 Hektar Grund und Boden. Im Kreis Lüdinghausen hatten diese einen Anteil von rund 16 % aller landwirtschaftlichen Betriebe. Sie konnten ihren Lebensunterhalt ausschließlich aus der Landwirtschaft bestreiten. Die bäuerlichen Betriebe der Mittelschicht wiesen eine Größe von 5 bis 20 Hektar auf. Hier sind auch die selbständigen Handwerksmeister, Kleinhändler und Kaufleute, teilweise in Kombination mit einem bäuerlichen Betrieb, und der zunehmend anzutreffende neue Mittelstand in Gestalt der Angestellten zu verorten. Die Unterschicht setzte sich aus Kleinbauern und Arbeitern zusammen, die weniger als 5 Hektar besaßen. Als Trennlinie zwischen einer haupt- oder nebenberuflich betriebenen Landwirtschaft galten zwei Hektar Betriebsgröße. Rund 40 % aller Betriebe im Kreis Lüdinghausen lagen 1925 unter dieser Linie. Diese begründete eine landwirtschaftliche Nebenexistenz, die zur agrarischen Selbstversorgung reichen konnte, aber zu einer weiteren Erwerbstätigkeit bei den Großbauern, im Handwerk oder als Industriearbeiter zwang. Daher bewegten sich die „Arbeiter-Bauern“ vornehmlich im dörflichen Außenraum, während die Angehörigen der dörflichen Mittel- und Oberschicht ortsfest organisiert und orientiert waren.

Die Fixierung der Mittel- und Oberschichten auf das Dorf ergab sich aus der traditionellen Form der Elitenrekrutierung. Besitz und Beziehungen bestimmten den Status und das Sozialprestige, Verwandtschaft entschied über politische Wählbarkeit und gesellschaftlichen Einfluss im dörflichen Sozialraum. Vor allem die Angehörigen der dörflichen Oberschicht erfüllten damit das Anforderungsprofil für gemeindliche Honoratioren und die Voraussetzungen für die Übernahme von Ämtern und Repräsentationsfunktionen in der Politik, im Kirchenvorstand oder im Vereinswesen. [...] Die Machtverhältnisse und Einflussmöglichkeiten im Dorf zeigten sich am deutlichsten in der Zusammensetzung der Amtsvertretungen und Gemeindevertretungen, die von den Großbauern beherrscht wurden und wo schon an den Namen der Amtsinhaber die jeweiligen Verwandtschaftskreise auszumachen sind.

Seit 1924 geriet auch die Landwirtschaft im Münsterland durch preiswerte ausländische Agrarimporte unter Druck. Die Landwirte sahen sich gezwungen durch eine verstärkte Technisierung ihre Anbaumethoden zu rationalisieren und ihre Erträge durch dichtere Fruchtfolge und intensivere Düngung zu steigern. Der notwendige Wandel der Wirtschaftsweise von der arbeits- zur kapitalintensiven Produktion, z.B. durch die Einführung des Motorschleppers, machte in dieser Zeit jedoch nur sehr langsame Fortschritte und konnte überhaupt nur von den Großbetrieben geleistet werden. Aufgrund der mangelnden Rentabilität vieler Betriebe, des Mangels an Betriebskapital und der bedeutsamen Verschuldung konstatierte der Landrat in Lüdinghausen 1928 eine „gespannte Lage der bäuerlichen Bevölkerung“. Die Ursachen verortete er „in Missernten, Seuchen, geringen Preisen für landwirtschaftliche Produkte, hohen Futtermittelpreisen, der Schweinezufuhr und hohen Kreditzinsen“. Die zurückgehende Anzahl der landwirtschaftlichen Betriebe von 1925 bis 1931 aufgrund von Betriebszusammenlegungen und ein reger Grundstücksverkehr liefern einen Hinwies auf strukturelle Veränderungen in den Besitzverhältnissen auf Kosten der ländlichen Unterschicht. Insgesamt gesehen befanden sich die Bauern im westlichen Münsterland durch die Nähe zum verkehrsgünstig zu erreichenden Ruhrgebiet noch in einer wirtschaftlich bevorzugten Lage. Die dortige Millionenbevölkerung stellte einen guten Absatzmarkt mit steigender Nachfrage nach den Veredelungsprodukten Fleisch und Milch dar."

Formuliert und zitiert nach dem Text in: Walter, Bernd: Das NS-Regime – Kollegen und Nachbarn. Die Kreise Coesfeld und Lüdinghausen in der Zeit des Nationalsozialismus (Beiträge zur Landes- und Volkskunde des Kreises Coesfeld Band 30), Münster 2024, S. 19-21, dort werden auch die Zitate im Text belegt.

 

Das wirtschaftliche und soziale Profil der Gemeinden

"In den Dörfern der Kreise Coesfeld und Lüdinghausen bestanden bis Anfang der 1930er Jahre trotz der sozialen ´Klassen`-Unterschiede und wirtschaftlichen Krisenerscheinungen weitgehend festgefügte Sozial- und Machtverhältnisse, die nach außen aufgrund der katholischen Konfession noch weitgehend geschlossene Gesellschaften bildeten. Diese basierten auf der Herausbildung eines ´katholischen Milieus` mit eigenen Lebensformen, Verhaltensmustern und Organisationsformen. Das Milieu war sozial bedingt und prägte ein religiöses Gruppenverhalten, das sich nachhaltig auf das Verhältnis von Kirche, Staat und Politik auswirkte. Im Zuge der Industrialisierung waren insbesondere im Süden des Kreises Lüdinghausen auch protestantisch und sozialistisch geprägte Lebenswelten entstanden. Die Wirkungsmacht dieser Milieus und Lebenswelten bei einer zunehmenden inneren Heterogenität muss im regionalen Zusammenhang gesehen werden, da sie offensichtlich mit der Industrialisierung und in wirtschaftlichen Krisenzeiten unter Druck gerieten. [...]

Aus der prozentualen Verteilung der Erwerbstätigen in den Gemeinden auf die drei Wirtschaftssektoren ´Land- und Forstwirtschaft`, ´Handwerk und Industrie` und ´Gewerbe und Dienstleistungen` (Öffentliche Dienstleistungen, Handel, Verkehr, häusliche Dienste etc.) ergeben sich Gemeindetypen mit einem spezifischen sozialen und wirtschaftlichen Profil. Es lassen sich Agrargemeinden, agrarisch-gewerbliche und agrarisch-industrielle, gewerblich-industrielle und Industriegemeinden unterscheiden.

Agrargemeinden mit einem hohen Anteil selbständiger Bauern, einem durchschnittlichen Anteil von Gewerbetreibenden und wenigen Angestellten und Beamten beherrschten den ganzen Kreis Coesfeld, im Kreis Lüdinghausen dagegen finden wir sie in den nördlichen, östlichen und westlichen Randbereichen. Im Zentrum der Regionen mit Agrargemeinden lagen jeweils gewerblich-industriell geprägte Städte und Gemeinden mit Versorgungsfunktionen für das Umland. Sie unterschieden sich jedoch wieder durch ein besonders Gewicht des industriellen Sektors (Billerbeck, Gescher, Dülmen), von Handwerk, Gewerbe und Dienstleistungen (Drensteinfurt, Olfen) oder durch ihre traditionellen Funktionen als Verwaltungszentren der Kreise (Coesfeld, Lüdinghausen). Gewerblich-industriell geprägte Gemeinden (Bork, Herbern, Stockum) sind jedoch auch im südlichen Bereich des Kreises Lüdinghausen zu finden. Die Entwicklung des örtlichen Handwerks und des Arbeitsmarktes stand hier unter dem Einfluss der rasanten Industrialisierung in den Nachbarstädten und Industriegemeinden (Bockum, Hövel, Selm, Werne).

Im Kreis Lüdinghausen insgesamt bestimmten jedoch nach wie vor die agrarisch-gewerblichen Gemeinden das Landschaftsbild, während sich im Kreis Coesfeld agrarisch-industrielle Gemeinden herausgebildet hatten. Gemeinsame Merkmale beider Gemeindetypen waren der landwirtschaftliche Sektor mit einem hohen Anteil selbständiger Bauern und Nebenerwerbslandwirte sowie ein starker handwerklicher Sektor. Die agrarisch-industriellen Gemeinden (Harwick, Darfeld, Osterwick, Holtwick, Lette, Darup, Limbergen) zeichnete eine bemerkenswerte Anzahl von Erwerbstätigen in der Industrie aus. Sie arbeiteten sowohl in kleinen Betrieben vor Ort wie der Ziegelei Kuhfuß und der Dampf-Molkerei und Walzenmühle von J. Lülf in Osterwick als auch in den nahegelegenen Textilbetrieben. Auf einen Nebenerwerb angewiesene Landwirte nahmen auch lange Anfahrtswege in Kauf. Aus der Gemeinde Lette pendelten sie bis in das Ruhrgebiet.

Der Vergleich der Gemeinden aufgrund der Verteilung der Erwerbstätigen nach Wirtschaftssektoren zeigt das sehr bunte Bild einer ländlichen Gesellschaft im Übergang zur Industriegesellschaft und die Ungleichzeitigkeit der Entwicklung in Stadt und Land. Das Nebeneinander von landwirtschaftlich-dörflicher ´Idylle` und industriell-städtischer ´Moderne` in einem überschaubaren Raum darf nicht über die konkreten gesellschaftlichen Herausforderungen hinwegtäuschen, mit denen sich der Einzelne, die Dorf- und Stadtgesellschaft auseinandersetzen mussten. Die Konfrontation der Milieus und Lebenswelten mit konservativ-nationaler und liberal-demokratischer Politik, mit individuellen und kollektiven Wirtschaftsinteressen zwang zur Positionierung. Mit den Stimmengewinnen der Rechtsradikalen seit der Weltwirtschaftskrise war die Lösung der Konflikte mit den milieunahen Parteien sowie die Klärung des Verhältnisses zu den Parallelmilieus in den Städten umso dringender. Die Rechtsradikalen hatten bis 1933 vor Ort nur dann Erfolg, wenn sie auf gesellschaftliche Konflikte, Orientierungslosigkeit und Existenzängste stießen."

Formuliert und zitiert nach dem Text in: Walter, Bernd: Das NS-Regime – Kollegen und Nachbarn. Die Kreise Coesfeld und Lüdinghausen in der Zeit des Nationalsozialismus (Beiträge zur Landes- und Volkskunde des Kreises Coesfeld Band 30), Münster 2024, S. 21-24, dort werden auch die Zitate im Text belegt.

 

Milieus in den Kreisen Coesfeld und Lüdinghausen

Das katholische Milieu

„Die Pfarrer, Vikare und geistlichen Rektoren bildeten das ´primäre Netz` des katholischen Milieus. In dieser Funktion übten sie in fast allen Gemeinden die geistliche Aufsicht über die kirchlichen Kindergärten, die katholischen Volksschulen, die konfessionell gebundenen weiterführenden Schulen und die kommunalen gewerblichen und kaufmännischen Fortbildungsschulen aus und erteilten selbst Religionsunterricht. Sie waren an der Geschäftsführung der kirchlich-karitativen Einrichtungen beteiligt und fungierten als Präsides der katholischen Vereine. Das Personal der Einrichtungen wie die katholischen Lehrerinnen und Lehrer, die geistlichen Lehrer und Rektoren, vor allem aber die Kongregationen und Genossenschaften der Schwestern in der Krankenpflege, Fürsorge und Ausbildung hatten in der Seelsorge eine wichtige flankierende Funktion. Das hatte umso größere Bedeutung, da die Krankenpflege und Fürsorge in den Kreisen Coesfeld und Lüdinghausen nahezu vollständig in den Händen von Orden, vor allem von Schwesternorden lagen. Sie stellten das Personal für bischöfliche Bildungs- und Pflegeeinrichtungen wie (Stand 1932)

- das St. Vinzenzhaus (Haus Hall) bei Gescher, ein Bildungs- und Pflegeheim für vorschulpflichtige, schulpflichtige und schulentlassene nicht epileptische schwachsinnige Knaben und Mädchen mit 250 Plätzen,

- das St. Martinistift zu Buxtrup, Post Appelhülsen, eine Erziehungsanstalt für Fürsorgezöglinge mit 250 Plätzen,

- die Marienburg bei Coesfeld (Westf.), eine Erziehungsanstalt für Mädchen (200 Plätze) mit angeschlossener Volks- und Hilfsschule,

- das Stift Maria-Hilf in Tilbeck bei Havixbeck, eine Heil- und Pflegeanstalt für 550 katholische epileptische Frauen und Mädchen.

Für die seelsorgerische Arbeit waren allerdings die Krankenpflege- und Fürsorgeeinrichtungen wichtiger, die in 11 Gemeinden des Kreises Coesfeld und 15 Gemeinden des Kreises Lüdinghausen existierten. Im Kreis Coesfeld gehörten dazu: 7 Hospitäler, 3 Altenheime, 7 Kindergärten, 2 Waisenhäuser, 4 Orte mit ambulanter Pflege und Fürsorge; 10 dieser Einrichtungen boten auch Handarbeits- und Kochschulen an. Für den Kreis Lüdinghausen ergibt die Bestandsaufnahme: 15 Hospitäler, 2 Altenheime, 11 Kindergärten, 1 Waisenhaus, 6 Orte mit ambulanter Pflege und Fürsorge; hier boten 14 Einrichtungen gleichzeitig Handarbeits- und Kochschulen an. In den Hospitälern des Kreises Coesfeld standen Ende der 1920er Jahre rund 500 Plätze, im Kreis Lüdinghausen rund 1.000 Plätze zur Verfügung. Die größten Kontingente des Personals für die Krankenpflege und Fürsorge in den Gemeinden stellten die Kongregation der Schwestern nach der dritten Regel des hl. Franziskus (Franziskaner-Schwestern) mit 134 Personen, die Genossenschaft der Barmherzigen Schwestern (Klemensschwestern oder Barmherzige Schwestern) mit 123 Personen, die Genossenschaft der Schwestern von der Göttlichen Vorsehung (Vorsehungsschwestern) mit 66 und die Genossenschaft der „Schwestern der christlichen Schulen von der Barmherzigkeit“ (Schwestern von Heiligenstadt) mit 47 Personen. […] Parallel zur institutionalisierten christlichen Seel- und Fürsorge hatte sich in allen Gemeinden der Kreise ein breitgefächertes und mitgliederstarkes katholisches Vereinswesen entwickelt. Bei einem Anteil der Katholiken von mehr als 94 % der Einwohner und einem Organisationsgrad der katholischen Gemeindemitglieder zwischen 41 und 65 % prägte dieses Vereinswesen das gesellschaftliche und kulturelle Leben der Pfarrgemeinden in den Städten und auf dem Land. Mit Einschränkungen galt dieses auch für die alten Siedlungskerne der industriell geprägten Städte und Gemeinden Werne, Altlünen, Selm, Bockum und Hövel. […] Trotz des hohen Organisationsgrades war das katholische Milieu nicht homogen. Insbesondere in den Aktivitäten der karitativen, berufsständischen und sozialpolitischen Vereinigungen spiegelte sich die soziale Heterogenität der Gesellschaft im Milieu wider. Die Katholischen Arbeitervereine waren in Städten und Gemeinden mit Industrie und in Gemeinden mit Pendlern ins Ruhrgebiet besonders stark vertreten. Sie pflegten eine kritische Distanz zu den Gesellenvereinen und Kaufmännischen Vereinen. Im Engagement der Elisabeth- und der Fürsorgevereine zeigte sich das paternalistische Fürsorgeverständnis der Kirche und ein eher honoratiorenhaftes Selbstverständnis. […] Bei Wahlen waren die katholischen Suborganisationen und der Klerus für die Mobilisierung der eigenen Klientel unverzichtbar, wobei die Freiheitsgrade der individuellen Wahlentscheidung sich ohnehin in Grenzen hielten. Sie wurzelte in vorpolitischen Erfahrungen, in kollektiven ideellen Interessen und weltanschaulichen Bindungen, also in einer lebensweltlich bedingten Empfänglichkeit, die das katholische und sozialistische Milieu geprägt hatte.“

Formuliert und zitiert nach dem Text in: Walter, Bernd: Das NS-Regime – Kollegen und Nachbarn. Die Kreise Coesfeld und Lüdinghausen in der Zeit des Nationalsozialismus (Beiträge zur Landes- und Volkskunde des Kreises Coesfeld Band 30), Münster 2024, S. 26-33, dort werden auch die Zitate im Text belegt.

Organisationsgrad der Katholiken in katholischen Vereinen 1932

Die Tabellen sind abgedruckt in: Walter, Bernd: Das NS-Regime – Kollegen und Nachbarn. Die Kreise Coesfeld und Lüdinghausen in der Zeit des Nationalsozialismus (Beiträge zur Landes- und Volkskunde des Kreises Coesfeld Band 30), Münster 2024, S. 29f.

Das bürgerlich-protestantische ‚Kleinmilieu‘

„Die Protestanten lebten in den Kreisen Coesfeld und Lüdinghausen bis zur Industrialisierung in einer ausgeprägten Diaspora-Situation. Die Inbesitznahme ihrer Herrschaft im Münsterland durch die protestantischen Wild- und Rheingrafen zu Salm-Grumbach im Jahr 1802, die Coesfeld zum Zentrum ihrer Grafschaft machten, später dann die Bildung der preußischen Kreise Lüdinghausen (1804 bzw. 1816) und Coesfeld (1816) leiteten die Ansiedlung vor allem von evangelischem Verwaltungspersonal und ihren Familien ein. Der evangelischen Gemeinde Coesfeld gehörten 1932 855 Personen in Stadt und Amt Coesfeld und 300 Protestanten aus umliegenden Gemeinden, auch aus Nottuln, Groß- und Klein-Reken an. In Stadt und Kirchspiel Dülmen lebten 489 Protestanten. Ähnliche Verhältnisse bestanden in Stadt und Amt Lüdinghausen mit 336 Gemeindemitgliedern (1932). Im südlichen Kreisgebiet veränderte der Zustrom von Arbeitskräften durch die Industrialisierung die Voraussetzungen für die Neugründung von evangelischen Gemeinden grundlegend. Hier lebten in den Gemeinden Selm, Altlünen, Werne, Bockum und Hövel 1932 über 16.000 Protestanten, so dass seit Anfang der 1920er Jahre die Kirchengemeinden Werne, Selm und Bockum-Hövel neu entstehen konnten. […] Aufgrund der sozialen Zusammensetzung, dem Fehlen einer starken Arbeitervereinigung und einer dem Zentrum vergleichbaren protestantischen Konfessionspartei bildete sich in den Kreisstädten Coesfeld und Lüdinghausen kein schichtübergreifendes Milieu heraus. Die Minderheitensituation und die breiter gefächerten Parteipräferenzen sprechen eher für die Existenz eines bürgerlich-protestantischen Kleinmilieus mit einer geringeren Kirchenbindung als im katholischen Milieu. Schon durch die Zahl der Gemeindemitglieder standen die evangelischen Gemeinden in Werne, Selm und Bockum-Hövel vor einer anderen Ausgangssituation, da ihnen in den von sozialen Problemen geprägten Arbeitervierteln eine weltanschauliche Konkurrenz gegenüberstand, die sich konkret für bessere Lebensbedingungen einsetzte.“

Formuliert und zitiert nach dem Text in: Walter, Bernd: Das NS-Regime – Kollegen und Nachbarn. Die Kreise Coesfeld und Lüdinghausen in der Zeit des Nationalsozialismus (Beiträge zur Landes- und Volkskunde des Kreises Coesfeld Band 30), Münster 2024, S. 33f., dort werden auch die Zitate im Text belegt.

Das Arbeitermilieu

„Im Kreis Coesfeld bildeten sich nur in den früh industrialisierten Städten Coesfeld und Dülmen vergleichsweise geschlossene Minderheitsmilieus in der Arbeiterschaft heraus, die von den Anhängern und Mitgliedern der SPD und der freien Gewerkschaften getragen wurden. Die Anfeindungen gegen die Arbeiterschaft durch das katholische und bürgerlich-konservative Lager lebten von einem doppelten Vorurteil: Die Arbeiter seien aufgrund ihrer politischen Gesinnung als sozialmoralisch bedenklich zu beurteilen und gesellschaftspolitisch gefährlich, obwohl sie zum Großteil ebenfalls eine christlich-katholische Erziehung und Sozialisation erfahren hatten und noch der Kirche angehörten. Der Druck von außen förderte auch hier die Kooperation in der Partei- und Gewerkschaftsarbeit und den sozialen Zusammenhalt durch Nachbarschaften, familiäre Freundschaften und gemeinsame Freizeitunternehmungen, meist im Rahmen eigener Sport, Kultur- und Fürsorgevereine. Auf der Grundlage des Wählerpotentials bei der Stadtverordnetenwahl 1929 und Reichstagswahl 1930 lässt sich der personelle Umfang des Arbeitermilieus abschätzen. Es umfasste in Coesfeld rund 600, in Dülmen rund 750 Arbeiterinnen und Arbeiter, das entsprach der Hälfte der Wählerstimmen, die in diesen Städten die Arbeiterliste des Zentrums auf sich vereinigen konnte. […]

Die KPD konnte bei den Reichstagswahlen in der Weimarer Republik bis einschließlich 1930 im Kreis Coesfeld 1 bis 2 % der Wählerstimmen verbuchen. In der Stadt Coesfeld erreichte sie 1930 3,4 % (195 Stimmen), in der Stadt Dülmen 4,0  % (201 Stimmen). In dieser Ausweitung der KPD-Wählerschaft in der Region deutete sich bereits die zunehmende Radikalisierung als Folge der Weltwirtschaftskrise an. Bis zu diesem Zeitpunkt sind aber keine KPD-Lokalorganisationen nachweisbar. Wenn nicht einzelne KPD-Funktionäre durch den zuständigen Unterbezirk Rheine eingesetzt wurden, dann werden die wenigen aktiven KPD-Mitglieder aus dem lokalen Arbeitermilieu hervorgegangen sein, dem sie sich zu diesem Zeitpunkt aufgrund der gemeinsamen sozialen Lage und gesellschaftlichen Erfahrung weiterhin verbunden fühlten. Von außen wurde es ohnehin als ein proletarisches Milieu wahrgenommen. Die Entstehung der Arbeitermilieus in den südlichen Gemeinden des Kreises Lüdinghausen vollzog sich im Gleichschritt mit dem Beginn der Kohleförderung auf den Zechen in Werne (1902), Bockum/Hövel (1907) und Selm (1909). Die mit der Industrialisierung ausgelöste Zuwanderung von Arbeitskräften förderte die Entstehung eigener Wohnbezirke der Bergarbeiterbevölkerung, die als ´Hochburgen` der Arbeiterbewegung galten, während die altansässige Bevölkerung den sozialistischen Strömungen ablehnend gegenüberstand. Der spätere Industrialisierungsbeginn im Vergleich zum Kreis Coesfeld, die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges, die Gründung der KPD und die Krisensituationen der Weimarer Republik prägten jedoch maßgeblich die Organisation und Politik der Arbeiterparteien und ihr Verhältnis zueinander. […] In dieser Zeit können drei Phasen unterschieden werden: Zunächst eine Phase der Dominanz der SPD bis 1924/25, dann die Koexistenz von SPD und KPD in der Weimarer Republik bis 1929 und die folgende Phase einer erbitterten Gegnerschaft beider Parteien. Der Aufbau von Ortsgruppen oder Filialvereinen der SPD-Organisation im Kreis Lüdinghausen ist bis zum Ersten Weltkrieg für die Gemeinden Werne, Bockum/Hövel und Selm belegt. […]

Die ersten organisatorischen Spuren haben die Kommunisten im Kreis Lüdinghausen mit einem Vorschlag für eine Arbeiterratswahl in Bockum und Hövel im August 1919 hinterlassen. Dichter werden die Hinweise mit dem Beginn des Ruhrkampfes im März 1920, als sich die ´Rote Ruhrarmee` aus Arbeitern des linken und gewerkschaftlichen Spektrums gegen die antirepublikanischen Kräfte formierte, die hinter dem Kapp-Lüttwitz-Putsch standen. In der ´Roten Ruhrarmee` kämpfte bei Dortmund eine ´Rote Kompagnie Bork-Lünen`, deren Mannschaftsmitglieder überwiegend aus Selm stammten. Auch der Einsatz von Bergarbeitern aus der Kolonie Radbod in Bockum/Hövel ist nachgewiesen. Die eindeutige Zuordnung dieser ´Rotgardisten` zu den Kommunistischen ist jedoch nicht möglich, da sie dem gleichen Arbeitermilieu wie die Sozialdemokraten entstammten und ihre Selbstverortung im linken Spektrum durchaus schwanken konnte. Bis September 1920 wurden jedoch durch Impulse aus Lünen und Hamm KPD-Ortsgruppen in Selm, Werne und Bockum/Hövel initiiert. Die KPD profitierte auch von der Vereinigung mit Linken der USPD, so dass die Ortsgruppe Selm im Frühjahr 1921 280 Mitglieder umfasste. Für Werne und Bockum/Hövel ist die personelle Stärke der Ortsgruppen in den folgenden Jahren nicht bekannt. Die Wählerstimmen bei den Reichstagswahlen 1924 bis 1932 liefern wiederum einen Anhalt für den Umfang der organisatorischen Basis und die Anzahl der KPD-Sympathieträger. In Selm hatte die KPD in dieser Zeit ein Wählerpotential von rund 630–1.830 Stimmen unter den wahlberechtigten, über 20 Jahre alten Frauen und Männern, in Werne von 520–960 Stimmen und in Bockum/Hövel von 1.630–3.050 Stimmen.“

Formuliert und zitiert nach dem Text in: Walter, Bernd: Das NS-Regime – Kollegen und Nachbarn. Die Kreise Coesfeld und Lüdinghausen in der Zeit des Nationalsozialismus (Beiträge zur Landes- und Volkskunde des Kreises Coesfeld Band 30), Münster 2024, S. 34-38, dort werden auch die Zitate im Text belegt.

Wahlen 1933

Ergebnisse der Reichstagswahl am 5. März 1933 in ausgewählten Städten und Gemeinden der Kreise Coesfeld und Lüdinghausen. 

Ergebnisse der Kommunalwahl am 12. März 1933 in den Kreisen Coesfeld und Lüdinghausen und ausgewählten Städten und Gemeinden.

Die Tabellen sind abgedruckt in: Walter, Bernd: Das NS-Regime – Kollegen und Nachbarn. Die Kreise Coesfeld und Lüdinghausen in der Zeit des Nationalsozialismus (Beiträge zur Landes- und Volkskunde des Kreises Coesfeld Band 30), Münster 2024, S. 73 und 74.

Kreistagsmitglieder 1933

Kreis Coesfeld – Kreistagsmitglieder (Wahl am 12. März 1933)

Kreis Lüdinghausen – Kreistagsmitglieder (Wahl am 12. März 1933)

Die Tabellen sind abgedruckt in: Walter, Bernd: Das NS-Regime – Kollegen und Nachbarn. Die Kreise Coesfeld und Lüdinghausen in der Zeit des Nationalsozialismus (Beiträge zur Landes- und Volkskunde des Kreises Coesfeld Band 30), Münster 2024, S. 95f.

Struktur der Kreisverwaltungen

Der Landrat

"Die Kreisordnung für die Provinz Westfalen vom 31. Juli 1886 blieb im Wesentlichen als normative Grundlage für das Verwaltungshandeln der Kreise Coesfeld und Lüdinghausen bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges in Kraft. Sie war maßgeblich mit der Intention verbunden, Staat und Gesellschaft miteinander zu verbinden und die Bürger an den Staatsaufgaben unmittelbarer zu beteiligen, auch um auftretende Interessenunterschiede bei der Wahrnehmung der staatlichen und kommunalen Aufgaben zu einem Ausgleich zu bringen. Die deutliche Stärkung der Selbstverwaltung prägte die charakteristische ´Doppelstellung der Kreise` als Selbstverwaltungskörperschaften einerseits und staatliche Verwaltungsbezirke andererseits. Die Verwaltung der staatlichen Aufgaben lag fast ausschließlich in der Hand des Landrates, während sich die Kreiskommunalverwaltung im Zusammenspiel von Kreistag, Kreisausschuss und Landrat vollzog. [...]

Aufgrund der Kreisordnung hatte der Landrat also eine ´doppelte` Funktion, die von Zeitgenossen mit dem Bild der ´Janusköpfigkeit` treffend charakterisiert worden ist. Als ´Organ der Staatsregierung` personifizierte er den Staat als Ordnungsmacht und war unterstes Glied der staatlichen Behördenhierarchie. In dieser Funktion unterlag der Landrat der vollen Weisungsmacht der herrschenden Regierung als Staatsgewalt und oberstem Dienstherrn der Beamten. Als Vorsitzender des Kreistages und des Kreisausschusses leitete er zugleich die Kommunalverwaltung des Kreises und war so ein ´Scharnier` bzw. ´Mittler` zwischen der Staats- und Kommunalverwaltung. Die Verzahnung von Staats- und Kommunalverwaltung spiegelte sich auch in der Stellvertreterregelung. Der Kreistag wählte als Stellvertreter des Landrates zwei Kreisdeputierte, sprich ehrenamtliche Beigeordnete aus den ´Kreisangehörigen`. Sie waren also nicht unbedingt Mitglied des Kreistages. Ihre Berufung bedurfte der staatlichen Bestätigung und der Landrat musste sie vereidigen.

Dass die Machtstellung des Landrates in der Kreiskommunalverwaltung in der Praxis weitaus stärker war als in der Kreisordnung vorgesehen, ergab sich aus dem Berufungsverfahren und der Qualifikation. Bei Vakanz der Landratsstelle hatte der Kreistag das Recht geeignete Personen ´in Vorschlag zu bringen`, ohne dass die Regierung im Vergleich zu früher an diese Vorschläge gebunden war. Diese Unabhängigkeit der preußischen Regierung in der Berufung des Landrates stärkte den staatlichen, aber auch den politischen Charakter des Amtes. Die Regierung konnte einen Landrat aus rein dienstlichen Gründen ohne Disziplinarverfahren in den Ruhestand versetzen. Hinsichtlich der Qualifikation hatten die Landräte in den Kreisen Coesfeld und Lüdinghausen als Berufsbeamte bis 1933 noch eine juristische Vorbildung als Regierungs- oder Gerichtsassessor und konnten so unter den eher fachfremden Laien die Entscheidungsprozesse dominieren. Aufgrund der staatlichen Unmittelbarkeit war es nicht selten, dass die landrätliche Verwaltung auch in der republikanischen Zeit autokratische Züge annahm."

Formuliert und zitiert nach dem Text in: Walter, Bernd: Das NS-Regime – Kollegen und Nachbarn. Die Kreise Coesfeld und Lüdinghausen in der Zeit des Nationalsozialismus (Beiträge zur Landes- und Volkskunde des Kreises Coesfeld Band 30), Münster 2024, S. 85f., dort werden auch die Zitate im Text belegt.

 

Der Kreistag, der Kreisausschuss und die Kreisdeputierten

"Wie der Reichs- und preußische Landtag gingen in der Weimarer Republik auch die Kreistage aus allgemeinen, gleichen, unmittelbaren und geheimen Wahlen nach den Grundsätzen der Verhältniswahl hervor. Sie wurden auf vier Jahre gewählt. Wahlberechtigt waren alle über 20 Jahre alten reichsdeutschen Männer und Frauen, die ihren Wohnsitz im Gebiet des Kreises hatten. Nach Vollendung des 25. Lebensjahres waren sie wählbar. Wahlbezirke waren die Landkreise. Die Parteien stellten für diese Wahlbezirke Wahlvorschläge mit Kandidaten und Kandidatinnen auf. Da die Zahl der Kreistagsabgeordneten von der Zahl der Kreiseinwohner abhängig war, umfasste der Kreistag des Kreises Coesfeld seit 1929 25 Mitglieder, der Kreistag in Lüdinghausen 28 Mitglieder.

Nach der Kreisverfassung bestand das Wirkungsfeld des Kreistages in der Vertretung des Kreiskommunalverbandes. Als sein „Willensbildungsorgan“ hatte er über alle Kreisangelegenheiten zu beraten und zu beschließen, die ihm per Gesetz zugewiesen waren. Über ein generelles Zugriffsrecht oder ein allgemein-kreispolitisches Behandlungsmandat verfügte der Kreistag also nicht. [...] Sein institutionelles Gewicht gründete jedoch in den Rechten zur Wahl der Kreisdeputierten, also der Stellvertreter des Landrates, und zur Wahl des Kreisausschusses. Die sechs Mitglieder des Kreisausschusses wählte der Kreistag aus der Zahl der Kreisangehörigen, die nicht dem Kreistag angehören mussten. Gehörte ein gewähltes Ausschussmitglied dem Kreistag an, dann trat an seine Stelle in der Regel ein Ersatzmann von der entsprechenden Wahlvorschlagsliste der Partei. Wie bei den Kreisdeputierten wählte der Kreistag auch Stellvertreter für die Kreisausschussmitglieder. Den Vorsitz im Kreistag hatte der Landrat.

Der Kreisausschuss insgesamt bestand aus den sechs vom Kreistag gewählten Mitgliedern und dem Landrat, der diesem Gremium mit vollem Stimmrecht vorstand, die laufenden Verwaltungsgeschäfte führte und beaufsichtigte und den Kreisausschuss nach außen vertrat. Durch diese Zusammensetzung wurde eine Verbindung zwischen staatlicher Funktionsseite und Kreisvertretung erreicht. Der Kreisausschuss hatte also sowohl staatliche als auch nichtstaatliche Verwaltungsaufgaben. Zur staatlichen Seite gehörte die Funktion als untere staatliche Verwaltungsebene, in deren Hand die Ausführung der gesetzlich übertragenen Staatsaufgaben lag, als Disziplinarinstanz, die für die Ernennung, Anleitung und Beaufsichtigung der Beamten des Kreises zuständig war, und die Funktion als untere Instanz in Verwaltungsstreitverfahren. [...] Da die Kreistage nur selten tagten, war der Kreisausschuss das entscheidende Organ der Selbstverwaltung."

Formuliert und zitiert nach dem Text in: Walter, Bernd: Das NS-Regime – Kollegen und Nachbarn. Die Kreise Coesfeld und Lüdinghausen in der Zeit des Nationalsozialismus (Beiträge zur Landes- und Volkskunde des Kreises Coesfeld Band 30), Münster 2024, S. 91f., dort werden auch die Zitate im Text belegt.

 

Die Verwaltung des Kreises Coesfeld

"Im April 1933 umfasste das Personal der Kreisverwaltung Coesfeld mit dem Landratsamt, der Kreisausschussverwaltung, der Sparkasse des Kreises und im Schul- und Bildungswesen insgesamt 46 Personen. Ohne das 13-köpfige Personal der Sparkasse und die zwei Lehrerinnen für Haushaltskunde im Schul- und Bildungswesen verblieben 16 Beamte, 10 Angestellte und 5 Amtsgehilfen, Boten u.a. für die Verwaltung der Kreisaufgaben. Diese verteilten sich wiederum sehr ungleich auf das Landratsamt (4 Personen) und die Kreisausschussverwaltung (27 Personen). In der Kreisausschussverwaltung beanspruchten die zentralen Dienste wie das Steuerwesen, die Rechnungslegung und -prüfung und die Kreiskommunalkasse fast die gleichen Personalressourcen (13 Personen) wie die praktischen Arbeitsfelder im Wohlfahrtsamt, im Straßenwesen und im Kulturbauamt mit dem Wasser-, Wiesen- und Obstbau (14 Personen). Das verbeamtete und das angestellte Personal waren fast gleichstark vertreten. Der Frauenanteil (2 Fürsorgerinnen als Beamtinnen, 2 Angestellte) betrug in der Kreisausschussverwaltung rund 15 Prozent. Beamte des höheren Dienstes mit Hochschulausbildung sind als ´Experten` nur im Medizinal- und Baubereich zu finden. Zur Kreisverwaltung Coesfeld gehörte ein Medizinalrat und ein Baurat."

Formuliert und zitiert nach dem Text in: Walter, Bernd: Das NS-Regime – Kollegen und Nachbarn. Die Kreise Coesfeld und Lüdinghausen in der Zeit des Nationalsozialismus (Beiträge zur Landes- und Volkskunde des Kreises Coesfeld Band 30), Münster 2024, S. 100f., dort werden auch die Zitate im Text belegt.

 

Die Verwaltung des Kreises Lüdinghausen

"Schon aufgrund der größeren Kreisbevölkerung war der Personalbestand der Kreisverwaltung Lüdinghausen höher als im Kreis Coesfeld. Er umfasste hier 1933 mit der Sparkassenverwaltung (30 Personen) und dem Schul- und Bildungswesen (2 Lehrerinnen) 74 Personen, ohne diese Bereiche also 42 Personen. Die mit der Bevölkerungszahl wachsende Aufgabenfülle wirkte sich nicht unbedingt auf einen Zuwachs bei den Beamtenstellen (14) und Angestellten (5), sondern eher auf die Anzahl der Amtsgehilfen, Boten u.a. (23) aus. In der Verteilung dieses Personals auf das Landratsamt und die Kreisausschussverwaltung bzw. innerhalb der Kreisausschussverwaltung zeigen sich ähnliche Strukturmerkmale wie im Kreis Coesfeld. Da es in der Lüdinghauser Kreisverwaltung ebenfalls nur vier Frauen gab, war der prozentuale Anteil entsprechend geringer (10 Prozent). Zu diesen gehörte allerdings auch eine Kreisausschussobersekretärin, die in dieser Zeit in Kreisverwaltungen auf einer derart herausgehobenen Funktion noch selten waren. Ein Fachbeamter des höheren Dienstes war als Kreiskommunalarzt nur im Gesundheitswesen eingesetzt."

Formuliert und zitiert nach dem Text in: Walter, Bernd: Das NS-Regime – Kollegen und Nachbarn. Die Kreise Coesfeld und Lüdinghausen in der Zeit des Nationalsozialismus (Beiträge zur Landes- und Volkskunde des Kreises Coesfeld Band 30), Münster 2024, S. 101, dort werden auch die Zitate im Text belegt.

 

Personalstärke der Kreisverwaltungen der Kreise Coesfeld und Lüdinghausen in den Jahren 1933 und 1939

Die Tabelle ist abgedruckt in: Walter, Bernd: Das NS-Regime – Kollegen und Nachbarn. Die Kreise Coesfeld und Lüdinghausen in der Zeit des Nationalsozialismus (Beiträge zur Landes- und Volkskunde des Kreises Coesfeld Band 30), Münster 2024, S. 102.

Die Geschichte der NS-Bewegung in den Landkreisen Coesfeld und Lüdinghausen bis 1933

„Die Gründung der ersten Ortsgruppe der NSDAP in den Kreisen Coesfeld und Lüdinghausen in Dülmen am 1. Januar 1928 ging auf eine Initiative der Brüder Julius (1905–1970) und Franz Bielefeld (1907–1989) zurück, wobei der Jüngere die treibende Kraft war. Aufgrund ihrer politischen Sozialisation können sie als Angehörige der sogenannten ´überflüssigen Generation` gesehen werden, ´die aufgrund ihrer sich festigenden nationalistisch-reaktionären Weltanschauung voller Tatendrang aktiv den Anschluss an ein radikales Milieu suchten, welches den Umsturz der bestehenden Verhältnisse anstrebte.` Julius legte 1924 das Abitur ab. Er besuchte dann die höhere Handelsschule und erreichte als Angestellter des Hauptzollamtes Vreden eine sichere Existenz. Franz besuchte das Realgymnasium und machte dann in Münster, Sachsen und Berlin eine Ausbildung zum Techniker im Baugewerbe mit. Während der Weltwirtschaftskrise fand er keine Anstellung und lebte als ´Versicherungsvertreter` in prekären Verhältnissen. Der Erste Weltkrieg war für die Brüder Bielefeld in ihrer Jugend eine Schlüsselerfahrung und sie empfanden nach der Niederlage die eigene fehlende Fronterfahrung als Makel. […] Der Tod ihres älteren Bruders als 19-Jähriger ´auf dem Feld der Ehre`, der Ruhrkampf, die Niederschlagung der Roten Ruhrarmee, die auch Dülmen drei Tage besetzt hatte, dann die Ruhrbesetzung hatte die Jugendlichen in ihrer Ablehnung der Weimarer Republik gestärkt und zusätzlich motiviert, sich für ´Deutschlands Wiedergeburt` einzusetzen. Sie erlebten die Aufstände von links als Verrat an der alten Ordnung und den Frontkämpferidealen der Älteren. Hier bot sich auch eine Gelegenheit, den verpassten, aber nie wirklich beendeten Kampf ihrer Väter und Brüder durch die ´Eroberung der Straße` fortzusetzen und das verpasste Fronterlebnis zu kompensieren. Aufgrund ihrer weltanschaulichen Entwicklung war es konsequent, sich bereits mit 16 bzw. 18 Jahren dem nationalistischen Westfalenbund anzuschließen.

Der Westfalenbund stand im Beitrittsjahr 1924 jedoch vor der Auflösung und Eingliederung in den ´Stahlhelm`. Die Überführung der Dülmener Sektion des Westfalenbundes in den ´Stahlhelm` verlief nicht reibungslos, da sich eine Gruppe von Anhängern der Hitlerbewegung aus Dülmen und Haltern abspaltete und sich zum Wahlbündnis des ´Völkisch-sozialen Blocks` zusammenschloss, darunter die Brüder Bielefeld. Diese Entscheidung wurde maßgeblich durch Heinrich Capitaine beeinflusst, den die Bielefelds Anfang 1924 bei einem Vortrag von Joseph Goebbels in Haltern kennengelernt hatten. Capitaine sollte später auch zum Gründungkreis der Dülmener NSDAP-Ortsgruppe gehören. […]

Franz Bielefeld trat bereits 1925 während seiner Ausbildungszeit in Sachsen der SA und NSDAP bei. Seit Oktober 1925 beteiligte er sich an Straßenschlachten zwischen der SA und Kommunisten in Leipzig. Sein Engagement zeigt, dass er sich mit der gewalttätigen Praxis der SA im Straßenkampf völlig identifizierte. Auch während seines Aufenthaltes in Berlin bis Mitte 1926 wurde er wegen einer Schlägerei und eines Überfalls auf einen politischen Gegner verhaftet und zu Geld- wie Haftstrafen verurteilt. Das dämpfte seinen Aktionismus im ´Kampf um den Wiederaufstieg Deutschlands` jedoch nicht, da er noch 1926 nach seiner Rückkehr in Dülmen mit seinem Bruder und einigen Angehörigen des ´Stahlhelms` eine SA gründete. Zur gleichen Zeit nahmen die Brüder wieder Kontakt zu Heinrich Capitaine in Haltern auf, welcher in der dort bereits bestehenden NSDAP-Ortgruppe aktiv war. Julius Bielefeld wurde im November 1926 in der Ortsgruppe Haltern NSDAP-Mitglied. Mit Capitaine als ´Paten` bereiteten sie im Laufe des Jahres 1927 die Gründung der Ortsgruppe in Dülmen vor, die im Januar 1928, noch vor der Bildung des Gaues Westfalen als eigenständige Ortsgruppe von der Parteizentrale in München anerkannt wurde. Die Gründung des ´Brückenkopfes` Dülmen war also eine frühe Initiative von Einzelpersonen und kein Ergebnis von parteistrategischen Expansionsplänen, da sie in eine Zeit fiel, in der die NSDAP selbst im Ruhrrevier noch eine Existenz als politische Splittergruppe fristete. Bis 1930 traten daher auch nicht mehr als rund 20 Mitglieder in die NSDAP-Ortsgruppe und die SA ein. […]

Die frühen Gründungen der Ortsgruppen in Selm (August 1929) und in Werne (Juli 1930) wurden sehr wahrscheinlich von der Leitung des Bezirks Dortmund des Gaues Westfalen gezielt geplant und logistisch unterstützt. Sie sollten im Vorfeld der Wahlen vor Ort eine organisatorische und personelle Basis schaffen, mit deren Hilfe die überregional geplanten Veranstaltungen durchgeführt werden konnten. In Selm fand der Bezirk Dortmund mit dem 29-jährigen Bergmann Friedrich Wille einen Ortsgruppenleiter, der sich schon 1925 zur NSDAP bekannt und einen kleinen Kreis von Gleichgesinnten um sich versammelt hatte. In einem von der Arbeiterbewegung geprägten Umfeld war ihnen ein offensives Auftreten offensichtlich nicht möglich, da die NSDAP-Ortsgruppe bis Oktober 1932 nicht mehr als 25 Mitglieder zählte. Allerdings existierte zum Zeitpunkt des reichsweiten SA- und SS-Verbotes am 13.  April 1932 in Selm ein SA-Trupp in der Stärke von 71 Mann. Dieser war auch nach der Aufhebung des kurzzeitigen Verbotes am 17. Juni 1932 in die Einsätze der regionalen und überregionalen SA-Einheiten eingebunden. […]

Die frühen Gründungen der Ortsgruppen in Olfen (Juli 1930), Coesfeld (März 1931) und Stadtlohn (Juli 1930) wurden sehr wahrscheinlich durch die Propaganda- und Mobilisierungsaktionen des Bezirks Emscher-Lippe des Gaues Westfalen zur Reichstagswahl im September 1930 angestoßen und gefördert. Dabei konnte der Bezirk auch mit der Unterstützung der Ortsgruppen in Haltern und Dülmen rechnen. Im Vorfeld der Ortsgruppengründung in Olfen unter der Leitung des 53-jährigen Gastwirtes und Viehhändlers Wilhelm Plücker musste keine große Überzeugungsarbeit geleistet werden. Plücker als Vertreter des Mittelstandes stand für die beginnende Verwurzelung der NS-Bewegung in der Gemeinde und die Ausbildung einer breiteren gesellschaftlichen Basis. Der überproportionale Anteil der Selbstständigen und Bauern weist ebenfalls in diese Richtung. Insbesondere die an Rhein und Ruhr wieder aufflammenden bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen, die Sympathien für die Kommunisten bei einem Teil der in Olfen lebenden Arbeiterschaft und persönliche Existenzängste werden zur Formierung und politischen Neuorientierung der Mittelständler beigetragen haben. Auch die selbstbewusst auftretende SA-Einheit schreckte die Bürger in Olfen nicht ab, da sie unter der Führung des in der Region ansässigen Grafen von Korff-Schmising stand. […]

Die NSDAP intensivierte ihre Werbemaßnahmen und Propagandafahrten seit Juli 1930 vom Bezirk Emscher-Lippe in Kooperation mit den Bezirken Rheine und Münster auch nach Norden bis in den Kreis Ahaus. So wirkten z.B. die Brüder Bielefeld an der Gründung der Ortsgruppe in Stadtlohn im Juli 1930 mit. Die Nationalsozialisten aus dem Kreis Ahaus ´bearbeiteten` den Ort Gescher propagandistisch durch Plakatklebeaktionen. Im August 1930 durchquerten Propagandamärsche der Münsterschen und Schöppinger SA auch Darfeld und Osterwick. Da die SA-Trupps in Stadtlohn, Dülmen und Haltern noch klein waren, organisierten sie bei Veranstaltungen gemeinsam den Saalschutz. In der Kreisstadt Coesfeld fand erst im September 1930 die erste Großveranstaltung statt. Der aus Coesfeld stammende, in Münster wohnende Parteigenosse und SA-Führer Leopold Bolwin mietete die Stadthalle, um dann als Hauptredner aufzutreten. Gegen den Versuch der Coesfelder Stadtverordnetenversammlung die Nutzung zu verhindern, konnte er sich mit einer einstweiligen Verfügung des Coesfelder Amtsgerichtes zur Wehr setzen. Diese Veranstaltung war der Auftakt einer ganzen Folge öffentlicher Kundgebungen, um in Coesfeld Parteimitglieder zu gewinnen und die Gründung einer Ortsgruppe voranzutreiben. Die Erfolge der NSDAP bei der Reichstagswahl 1930 reichten als Motivationsschub für die Gründung der Ortsgruppe offensichtlich noch nicht aus. Erst die Bildung des Gaues Westfalen-Nord am 1. Januar 1931 gab den entscheidenden Anstoß, da der Aufbau einer flächendeckenden Parteiorganisation bei der neuen Gauleitung eine hohe Priorität hatte und Neugründungen forciert wurden. […]

Im Wahlkampfjahr 1932 verdichtete sich mit den Wahlerfolgen der NSDAP das Netz der Ortsgruppen in den Kreisen weiter, wobei in der Regel von den bestehenden Ortsgruppen aus in benachbarten Städten und Gemeinden zunächst Stützpunkte entstanden, die mit zunehmenden Mitgliederzahlen als selbständige Ortsgruppen anerkannt wurden, wie z.B. in Lüdinghausen oder Gescher. Mit der Anpassung der Hoheitsbereiche der Kreisleiter an die kommunalen Verwaltungsstrukturen und Auflösung der Bezirke ab September 1932 wird die Initiative für weitere Ortsgruppen-Gründungen wie in Darfeld und Drensteinfurt eher von der Parteikreisebene ausgegangen sein. Auf jeden Fall war zum Zeitpunkt der Machtübertragung ein grobes, aber durchaus flächendeckendes Netz der Parteiorganisation vorhanden, das nach den Wahlen im März 1933 bis zum Herbst 1933 durch Ortsgruppen in fast allen Gemeinden der Kreise Coesfeld und Lüdinghausen verdichtet wurde, auch um der seit März rasant ansteigenden Zahl der Parteieintritte Herr werden zu können.“

Formuliert und zitiert nach dem Text in: Walter, Bernd: Das NS-Regime – Kollegen und Nachbarn. Die Kreise Coesfeld und Lüdinghausen in der Zeit des Nationalsozialismus (Beiträge zur Landes- und Volkskunde des Kreises Coesfeld Band 30), Münster 2024, S. 109-116, dort werden auch die Zitate im Text belegt.

NSDAP: Die ersten Ortsgruppen und ihre Leiter in den Kreisen Coesfeld und Lüdinghausen bis 1933

Die Tabelle ist abgedruckt in: Walter, Bernd: Das NS-Regime – Kollegen und Nachbarn. Die Kreise Coesfeld und Lüdinghausen in der Zeit des Nationalsozialismus (Beiträge zur Landes- und Volkskunde des Kreises Coesfeld Band 30), Münster 2024, S. 108.

Amtszeiten der Ländräte und Kreisleiter in den Kreisen Coesfeld und Lüdinghausen 1933-1945

Die Tabelle ist abgedruckt in: Walter, Bernd: Das NS-Regime – Kollegen und Nachbarn. Die Kreise Coesfeld und Lüdinghausen in der Zeit des Nationalsozialismus (Beiträge zur Landes- und Volkskunde des Kreises Coesfeld Band 30), Münster 2024, S. 174.

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