Modul 1: Machtübertragung

Einführung

In der Nacht der Machtübernahme in Berlin (30./31. Januar 1933) feierte in Dülmen die NSDAP-Ortsgruppe in ihrem Stammlokal und gegen Mitternacht schlugen alkoholisierte SA-Männer in jüdischen Geschäften die Fensterscheiben ein. In anderen Orten in der Region blieb es ruhig und erfuhren die Menschen aus der Tageszeitung vom Regierungswechsel. Die Hauptstadt war für viele weit weg und bis zu den letzten halbwegs freien Wahlen im März blieb vieles beim Alten. Die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise waren immer noch allgegenwärtig und die Mehrheit der Bevölkerung sah sich als gute Katholiken und wählte weiterhin die Zentrumspartei. Es gab in den Orten aber dennoch Unterschiede in den Entwicklungen, dies erklärt sich allein schon aus dem wirtschaftlichen und dem sozialen Profil der Gemeinden und der unterschiedlichen Stärke der NSDAP. (Sie hierzu den Schnelleinstieg "Flaggenhissung".) 

Nach den Kreistagswahlen am 12. März zogen zwar zum ersten Mal sieben Abgeordnete der NSDAP in den Lüdinghauser Kreistag ein, die absolute Mehrheit (14 Sitze) verteidigte aber die Zentrumspartei. Die SPD (1 Sitz) und die rechts-konservative Kampffront Schwarz-Weiß-Rot (2 Sitze) spielten praktisch keine Rolle. Bis zum Tag der Bücherverbrennungen in ganz Deutschland, dem 10. Mai, hatten die Nationalsozialisten ihre Macht aber schon so weit gefestigt, dass der NSDAP-Kreisleiter, der nun ebenfalls in den Kreistag gewählt worden war, in der ersten Sitzung der Mehrheitsfraktion unverhohlen drohen konnte: „Ich erkläre die Herren, die hier Schwierigkeiten machen, als volksschädigende Kräfte.“[1]

In den ersten Monaten des Jahres 1933 ermöglichten die Entwicklungen auf Reichs- und Landesebene (Preußen) auch die Machtübernahme der Nationalsozialisten in den Kommunen des Münsterlandes. Trotz ihrer immer noch relativ geringen Zahl konnten die Nationalsozialisten ihre Diktatur errichten. Der Historiker Manfred Grieger erklärt es mit Blick auf Coesfeld wie folgt: „Zahlreiche Faktoren trugen in Coesfeld zu dem mitunter schleichenden und gelegentlich dynamischen Prozess der Machtübernahme bei. Neben der Staatskrise der Weimarer Republik, dem antidemokratischen Bodensatz der deutschen politischen Kultur, wie Chauvinismus, Rassismus, Antimarxismus und Autoritätshörigkeit, und der tief greifenden sozialen Versicherung durch die lang anhaltende Weltwirtschaftskrise war es vor allem die Schwäche der etablierten Eliten der ´alten Ordnung`, die dem demokratischen System den Todesstoß versetzte. In Coesfeld erwies sich insbesondere der alteingesessene, wankelmütige Mittelstand als besonders empfänglich für eine ganz als Bewegung auftretende Partei. Der immobile politische Katholizismus wusste zumal nach dem Konkordat der neuen Macht nichts mehr entgegenzusetzen und zerfiel. Das entstehende Vakuum füllte die politischen Elite der lokalen NSDAP.“[2]

Die Nationalsozialisten trafen also auf keinen großen Widerstand und konnten in vielfältigen Aushandlungsprozessen v.a. in Kooperation mit anderen rechten und konservativen Kräften (Stahlhelm, DNVP) ihre Machtposition stärken. Sie nutzten die Schwächen der politischen Mitbewerber und konnten sogar auf Terror verzichten, da gerade in den ländlich- bzw. kleinstädtisch geprägten Kommunen die konsensuale Entscheidungsfindung seit jeher angestrebt wurde. So beschreibt es André Schnepper in seiner Studie über die Kleinstadt Billerbeck: „Während die Zentrumspartei sowohl strukturell als auch personell schwach aufgestellt war, waren nicht wenige Mitglieder des Stahlhelmbundes in den kommunalen Gremien aktiv. Aufgrund ihrer sozialen Herkunft nahmen sie wichtige Funktionen innerhalb des politischen Gefüges wahr, das im Wesentlichen durch informelle Vereinbarungen geprägt wurde. (…) Im Unterschied dazu war der Einfluss der NSDAP zu diesem Zeitpunkt noch gering. Da die Möglichkeiten zur politischen Partizipation in Billerbeck an das soziale Ansehen gebunden waren, mussten sich die Nationalsozialisten, die sich bis März 1933 vorwiegend aus den unterbürgerlichen Schichten rekrutierten, vorerst mit dem Status einer Randgruppe zufrieden geben. Nach den Kommunalwahlen gelang es den Nationalsozialisten jedoch, ihr Image als ´Schmuddelkinder` innerhalb weniger Wochen abzulegen und die kommunalen Gremien unter ihre Kontrolle zu bringen. Während in größeren Städten oftmals ein schneller Elitenwechsel erzwungen wurde, zeichneten sich die kleinstädtischen Verhältnisse allerdings durch eine Kontinuität der Führungsschicht aus. Indem sich immer mehr angesehene Billerbecker zum Nationalsozialismus bekannten, wurden die bisherigen habituellen Hürden abgebaut und die Gleichschaltung der Amtsvertretung und des Stadtparlaments eingeleitet. Durch das Arrangement mit den deutschnationalen Kräften und durch bis dato in Billerbeck nicht bekannte Aktionsformen gelang es den Nationalsozialisten zum einen den öffentlichen Raum zu besetzen. Zum anderen wurden sie durch das Bündnis sozial aufgewertet. Da die Stahlhelmer nach den Wahlen den Schulterschluss mit der NSDAP suchten, wurden die Nationalsozialisten in Billerbeck salonfähig gemacht und in die Lage versetzt, die kleinstädtische Identität in ihrem Sinne zu beeinflussen.“[3]

Die lokalen Nationalsozialisten konnten an den Patriotismus der Münsterländer appellieren und auf ihre hohe Anpassungsbereitschaft zählen. Am 20. April 1933 fand anlässlich des Geburtstages des Reichskanzlers Adolf Hitler ein Fackelzug durch das Dorf Darfeld statt, der Bürgerschützenverein nahm mit anderen Vereinen daran teil. Nationale Parolen verfingen auch im katholischen Milieu und solange klare Angriffe auf die Kirche vermieden wurden, konnten sich immer mehr Menschen mit dem neuen System anfreunden, selbst Zentrumsmitglieder wechselten zur NSDAP. Je mehr Unterstützung die Nationalsozialisten erfuhren, desto mehr konnten sie natürlich den Anpassungsdruck erhöhen. Die extrem schnelle Gleichschaltung der kommunalen Gremien erklärt sich aber vor allem durch die Haltung der deutschnationalen Kräfte. Mit ihrem Prestige und ihrer Kooperationsbereitschaft ermöglichten sie, dass die Nationalsozialisten und ihre Ideologie innerhalb weniger Monate überhaupt tonangebend werden konnten.

Die charismatische Herrschaft Hitlers und seine Heilsversprechen begannen im Frühjahr auch in der Region zu wirken: „Da der neue Reichskanzler die Hoffnung auf eine baldige wirtschaftliche Erholung und eine Erneuerung des Reiches weckte und die Bevölkerung in der nationalen Revolution die Möglichkeit zur Vermehrung der kleinstädtischen Ehre erblickte, trat sie der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft bei.“[4] Bewusst muss man sich jedoch auch machen, dass der Prozess der Machtdurchsetzung sich in einigen Bereichen der Gesellschaft bis in die Jahre 1935/1936 hinzog.


    [1] Limbach; Mertens: Aus der Geschichte des Kreises Lüdinghausen 1803-1974, S. 97.

    [2] Grieger: Die neue Macht in Coesfeld, S. 1612.

    [3] Schnepper: Prozesse der Machtergreifung in einer katholischen Kleinstadt, S. 90f.

    [4] Schnepper: Prozesse der Machtergreifung in einer katholischen Kleinstadt, S. 91.

    Fragen

    • Wie wurden die nationalen Ereignisse 1933 vor Ort reflektiert oder nachgeahmt? (u.a. 30.1. „Machtübernahme“, 5.3. Reichstagswahlen, 21.3. „Tag von Potsdam“, 1.4. Boykott jüdischer Geschäfte, 10.5. Bücherverbrennungen)
    • Wie arrangierten sich die NSDAP-Funktionäre mit den traditionellen Eliten? Wie verhielten sich diese traditionellen Eliten?
    • Hatte die breite Zustimmung zum Nationalsozialismus vom Frühjahr 1933 auch in der Folgezeit vor Ort Bestand?
    • Ob und in welchem Umfang trug die kleinstädtische Gesellschaft vor dem Hintergrund einer positiven wirtschaftlichen Entwicklung die zunehmend gewaltsame Exklusion ganzer Bevölkerungsgruppen mit?
    • Setzte ein Desillusionierungs- und Lernprozess in unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen bzw. bei Einzelpersonen ein?

    Billerbeck: Die erste Sitzung Stadtgemeindevertretung 1933. Privatbesitz, Sammlung Fasse. Am 19. April 1933 fand die konstituierende Sitzung der Stadtgemeindevertretung in Billerbeck statt. Zur Kommunalwahl im März traten drei (Berufsstands-)Listen an: „Gewerbe, Handwerk, Landwirt“, „Arbeiter, Beamte und Gewerbetreibende“ und die „NSDAP“. Die NSDAP zog zum ersten Mal mit einem Abgeordneten in das Rathaus ein, beide anderen Listen errangen jedoch jeweils 4 Sitze. Zwei Vertreter des Stahlhelmes und zugleich führende Honoratioren der Stadt zogen über die Liste ein. Ohne die Entwicklung auf Reichsebene (u.a. „Tag von Potsdam“, Erlass des Ermächtigungsgesetzes) ist die Präsenz der SA und die festliche Ausschmückung des Ratssaales, inklusive Hakenkreuz-Fahne, unvorstellbar. Wie in vielen anderen Städten brachte man die Porträts Hindenburgs und Hitlers an der Wand des Sitzungsraumes übereinander an. Insbesondere der Einmarsch der SA-Leute unter Führung des NSDAP-Ortsgruppenführers, der selbst nicht Mitglied des Stadtparlamentes war, dürfte bei den restlichen Anwesenden seine beabsichtigte Wirkung nicht verfehlt haben. Durch die Anwesenheit der SA wurde die Gemeindevertretung als legislatives Organ entwertet und das staatliche Gewaltmonopol in Gegenwart der Bürgerschaft massiv in Frage gestellt. Indem die Nationalsozialisten den öffentlichen Raum besetzten, wurde der Handlungsspielraum der durch Wahl legitimierten Gemeindevertreter zunehmend eingeschränkt. Durch ihr Schweigen überließen die städtischen Vertreter den Nationalsozialisten nicht nur kampflos den öffentlichen Raum, sondern sie billigten und legitimierten das diskriminierende Vorgehen.

    Schnelleinstieg

    Zugang/Methode

    • Analyse und Interpretation von Protokollen der Bürgermeisterbesprechungen.

      Kommentar

      Die Protokolle der Bürgermeisterbesprechungen sind sehr interessante Quellen, da sowohl die Tagesordnungspunkte als auch die Zusammensetzung der Teilnehmer aufschlussreich sind. Schon vor 1933 lud der preußische Landrat die Bürgermeister seines Kreises zu Besprechungen ein, nach der Machtübertragung und den Prozessen der "Gleichschaltung" und der zunehmenden Etablierung des NS-Systems, veränderte sich aber der Charakter der Veranstaltung. Und im Kreis Lüdinghausen handelten die Nationalsozialisten schon 1933 so, wie es aus Berlin und München erst später gefordert wurde.

      Die drei Protokolle wurden ausgewählt, da sie die Entwicklung sichtbar machen. Für den Unterricht muss nicht das ganze Protokoll gelesen werden, man kann sich auch auf die Zusammenfassung beschränken. Zumindest in der Vorbereitung sollte die Lehrperson sich diese Datei durchlesen, da auch auf Beobachtungspunkte aufmerksam gemacht wird, die man leicht überliest oder nicht wahrnimmt.

      Zusammenfassungen und Anmerkungen der Bürgermeisterbesprechungen (Quelle: LAV NRW W, K 332/Kreis Lüdinghausen Nr. 1193)

      Aufgaben zur Bürgermeisterbesprechung vom 27. Juli 1933

      1. Lesen Sie das komplette Protokoll und klären unbekannte Begriffe.
      2. Arbeiten Sie aus allen Tagesordnungspunkten Zitate/Textauszüge heraus, die spezifisch für die NS-Zeit sind. (Sprache und Inhalt)
      3. Beurteilen Sie das Verhältnis von Kontinuität und Transformation. Inwiefern ist die NS-Ideologie sechs Monate nach der Machtübertragung in Berlin vor Ort spürbar?

      Protokoll der Bürgermeisterbesprechung vom 27. Juli 1933

      Aufgaben zur Bürgermeisterbesprechung vom 26. Oktober 1933

      1. Analysieren Sie das Protokoll.
      2. Charakterisieren Sie den Landrat und seine ideologische Einstellung.
      3. Stellen Sie dar, wie das Protokoll auf einen französischen Diplomaten oder englischen Journalisten gewirkt haben dürfte. (Alternativ: Stellen Sie sich vor, das Protokoll wäre nach Kriegsende in einem Gerichtsprozess gegen den Landrat als Beweis aufgetaucht.)

      Protokoll der Bürgermeisterbesprechung vom 26. Oktober 1933

      Aufgaben zur Bürgermeisterbesprechung vom 6. April 1934

      1. Skizzieren Sie die Person des „Arbeiters“ in der Ideologie der NSDAP.
      2. Erläutern Sie hiervon ausgehend die wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Ziele der NSDAP.
      3. Setzen Sie sich kritisch mit der Ideologie und den Umsetzungsplänen auseinander.
      4. Vergleichen Sie das Protokoll mit den beiden aus dem Jahr 1933. (Inhalt, Teilnehmer, Sprache)

      Protokoll der Bürgermeisterbesprechung vom 6. April 1934