Modul 3: Etablierung der Herrschaft

Einführung

„Im Kreis Lüdinghausen war unter dem nationalsozialistischen Landrat Barthel insofern ein besonders schwieriger Zustand eingetreten, als der Landrat in den letzten Jahren neben der Kreisverwaltung von Lüdinghausen auch die Verwaltung des Kreises Beckum hinzubekommen hatte. Aber eines darf man vielleicht zusammenfassend über diese Zeit sagen: Eine grundlegende Durchgestaltung der Kreisverwaltung nach den Prinzipien des Nationalsozialismus ist zwar viel überlegt worden, aber nie zum Gesetz geworden. Man begnügte sich (vorläufig) mit Anordnungen und Formeln, die mehr vortäuschten, als sie waren. Wenn Landrat Barthel alle Beamten und Angestellten in der Kreisverwaltung ´seine Gefolgschaft` nannte, so war damit natürlich nichts garantiert. Und wenn er, um sein Soll als ´alter Kämpfer` zu erfüllen, dafür sorgte, dass alle Beamten und Angestellten der Kreisverwaltung in die NSDAP eintraten und der Landrat sie mit ´Parteigenosse` anreden konnte, so war damit auch nichts garantiert. Die Folge war, dass keiner den anderen in sich hineinschauen ließ. Nur der damalige Hausmeister soll es fertig gebracht haben, das Breitrittgesuch zur Partei, das man ihm vorlegte, nicht zu unterschreiben.“ (Limbach; Mertens, S. 99f.)

Diese Ausführungen von 1974 muss man mit dem heutigen Forschungsstand kritisch hinterfragen. So bezeichnet der Historiker Bernd Walter den Landrat Herbert Barthel (1885-1945) als „die Schlüsselfigur zwischen Partei und Staat in der Region“, der durch die Kombination mehrerer Ämter eine große Macht ausüben konnte: „Der Regierungspräsident [Kurt Matthaei] stellte [bei der Amtseinführung am 20. Oktober 1933] Barthel ´als den ältesten Pg. des Münsterlandes vor [seit 1925], der ehrlich und gerade seinen Weg gegangen sei. Dies habe auch die Staatsregierung anerkannt, indem sie ihn zum Landrat` berufen habe. Dann skizzierte er Barthels doppelte Aufgabe: Als Parteigenosse und Nationalsozialist hätte er ´dafür Sorge zu tragen, dass die nationalsozialistische Bewegung nunmehr restlos in alle Herzen der Kreisbevölkerung Eingang finde`, damit ´alle Zankerei und Meckerei` endlich aufhöre und ´sich alle, Mann für Mann`, hinter den ´Führer` stellten. Aufgabe des Landrates sei es, ´die Staatsautorität unter allen Umständen zu wahren`. Darauf verpflichtete er den neuen Landrat durch Handschlag. Für Barthel gehörte die Verschmelzung der genannten Aufgaben ohnehin zu seinem Selbstverständnis als Angehöriger der Bewegung. Es wurzelte in vagen Vorstellungen über die ´Einheit von Staat und Partei`. Der Glaube an ihre Realisierung erschien aufgrund der vielfältigen konkurrierenden Organisationen und Interessen in Staat und Partei, die überwunden oder ausgeglichen werden mussten, aber eher ideologischer Überbau zu sein. Doch Barthel sollte weitere Zuständigkeiten erlangen, die zumindest in ihrer Kombination die Option eröffneten, auf einigen Aufgabenfeldern die Dualität von Staat und Partei weitgehend zu überwinden. Eine dieser Zuständigkeiten war seine Berufung zum Gauinspekteur, also zum Kontrolleur und Vertreter des Gauleiters in mehreren Parteikreisen, die Gauleiter Meyer dem neuen Landrat in seiner Begrüßung offerierte.  […] Als Gauinspekteur unterstand Barthel keiner Dienststelle der Reichsleitung. Er handelte allein im Auftrag des Gauleiters bzw. seines Stellvertreters. Als autonomes Instrument in der Hand des Gauleiters bestand seine Hauptaufgabe in der Überwachung der Parteidisziplin und der Konfliktlösung. Gauinspekteur Barthel hatte allen Gesuchen und Beschwerden aus seinem Zuständigkeitsbereich, die von Partei- und Staatsdienststellen und aus dem öffentlichen und privaten Leben an die Gauleitung gerichtet waren, nachzugehen, Kontrollbesuche und Untersuchungen durchzuführen. Zu seinem Aufgabenbereich gehörten auch Sonderaufträge aller Art, Gnaden- und Unterstützungsgesuche sowie Darlehensgesuche im Einvernehmen mit dem Gauwirtschaftsberater. […] [Seit dem Oktober 1934] gehörten die Kreise Ahaus, Borken, Coesfeld, Lüdinghausen und Recklinghausen-Land zur Inspektion II mit Barthel als Gauinspekteur. Im August 1936 wurde der Inspektion II auch noch der Kreis Steinfurt zugeschlagen. Barthel hatte damit im Parteiapparat eine exponierte Stellung erreicht, die er nicht nur als Kontroll- und Wächterfunktion über die Parteiorganisation seines Zuständigkeits- und Einflussbereiches, sondern über den gesamten kommunalen Bereich verstand. […] Barthel konnte mit seinen Ämtern als Landrat und zeitweiliger Kreisleiter im Kreis Lüdinghausen, Beauftragter der NSDAP im Kreis Coesfeld und Gauinspekteur für das gesamte Westmünsterland in der Phase der Etablierung und Konsolidierung des NS-Regimes maßgeblich zur Verwirklichung [des] Grundsatzes [´der unbedingten Einheit zwischen Partei und Staat`] beitragen. Auf jeden Fall war er sich der Bedeutung der Aufgabe bewusst, um ´die Synthese zwischen staatlichem Führerprinzip und berechtigtem Parteieinfluss` zu schaffen, wobei die Partei ´ihr Eigenleben` behalten musste, aber in den Gemeinden auch ´keine Nebenregierung` entwickeln durfte. Für Barthel sicherte der Einfluss der NSDAP bei der Auswahl von leitenden Beamten mit einer parteikonformen politischen Einstellung den ´weitgehenden Einfluss auf die Gemeindepolitik`.“

Formuliert und zitiert nach dem Text in: Walter, Bernd: Das NS-Regime – Kollegen und Nachbarn. Die Kreise Coesfeld und Lüdinghausen in der Zeit des Nationalsozialismus (Beiträge zur Landes- und Volkskunde des Kreises Coesfeld Band 30), Münster 2024, S. 153-163, dort werden auch die Zitate im Text belegt.

Die NS-Diktatur kannte beide Phänomene: einerseits ein rigides Durchgreifen mit dem Ziel der lückenlosen Erfassung der Gesellschaft und andererseits ein gewisses Laissez-faire mit dem Fortbestehen von alten Machtstrukturen. Zuweilen beließen die Nationalsozialisten bis zum Kriegsende 1945 die lokalen Kräfte in ihren Ämtern. Es reichte ein gewisses Arrangement bzw. die Kontrolle durch die Parteiorganisationen. Die Nationalsozialisten konnten sich der Regimetreue der erst nach der Machtübertragung 1933 in die Partei Eingetretenen nicht immer sicher sein und waren auf die lokalen Honoratioren und Verwaltungsexperten angewiesen. Ein Beispiel ist hierfür die Gemeinde Osterwick. Der Amtsbürgermeister der Gemeinde war von 1928 bis 1952 Dr. Karl Herbsthoff. Sein Nachfolger wurde der Osterwicker Bernhard Hecker (1897-1958), der seit 1912 – also sein ganzes Berufsleben – in der Amtsverwaltung tätig war.

Kontinuität bestand in Osterwick auch beim Gemeindevorsteher, der Fabrikant Joseph Lülf (1886-1947) war von 1919 bis 1935 Gemeindevorsteher und dann nach der Änderung der Gemeindeordnung von 1935 bis 1946 Bürgermeister. Die Osterwicker Familie Schulte Averdiek stellte über Generationen hinweg Repräsentanten der Gemeinde, die Männer bekleideten vom 19. Jahrhundert bis nach 1945 die Ämter des Amtsbürgermeisters, des Gemeindevorstehers, des Gemeindeschulzen oder des (Amts-)Beigeordneten. Die ehemals demokratisch gewählten Gremien und Ämter waren ab 1933 sinnentleert, ihr Fortbestand hielt nur noch die Fassade eines Rechtsstaates aufrecht. Seit 1935 lag die Leitung der Gemeinderatssitzungen, an denen auch Vertreter von NS-Organisationen teilnahmen, beim Kreisleiter der NSDAP. Partei, Kommunalvertretung und Verwaltung waren zu einem unauflöslichen Verband zusammengeschmolzen worden. Interessant ist auch die Zusammensetzung der NSDAP-Ortsgruppe in Osterwick. Der Ortsgruppe gehörten wenigstens 119 Mitglieder an. Dies entsprach einem relativ niedrigen Anteil von 4,6 % der Einwohnerzahl. Mit 59 % war die Mehrheit der Parteigenossen im Dorf ansässig, weitere fast 18 % stammten aus der Dorfbauerschaft und der Rest von 23 % verteilte sich auf die übrigen vier Bauerschaften. Das Dorf dominierte auch bei der Besetzung der Parteiämter. Der Ortsgruppenleiter war der in Osterwick ansässige Tierarzt, der jedoch nicht hier geboren war. Eine einheimische Lehrerin führte die NS-Frauenschaft, ein Lehrer war SA-Truppführer. Amtsleiter der NSV, HJ-Führer, Propagandaleiter, Organisationsleiter, Kassenleiter oder Geschäftsführer waren ebenfalls Dorfbewohner, die nicht dem Bauernstand angehörten. Die Parteigenossen entstammten mehrheitlich dem Mittelstand und waren Kaufleute und Handwerker. Vertreter der Landwirtschaft finden sich erst vermehrt in den wenigen, geringes politisches Engagement fordernden Rängen der Parteihierarchie; von den 17 in Osterwick vertretenen Blockleitern gingen immerhin 11 dem Beruf des Landwirtes nach. Dorothea Roters erklärt dies schlüssig: „Der Reiz der Macht, die mit der Übernahme leitender Positionen gewonnen wurde, mag vielleicht einen selbstständigen Bauern weniger beeindruckt haben als einen Dorfbewohner, der dadurch eine herausragende Stellung am Ort entweder erringen oder aber weiter ausbauen konnte.“ (Roters, S. 612)

Die Strukturen der Partei und die NS-Ideologie waren zwar wichtig, aber nicht die einzigen Faktoren, die das Handeln der Menschen bestimmten.

Fragen

  • Welchen Spielraum hatten Personen in einer totalitären Diktatur? Beispielsweise als Beamte in der Kreisverwaltung, als Lehrer, als Landwirt oder als Fabrikbesitzer.
  • Kompetenz oder Systemtreue – was ist entscheidend?
  • Wie konnten die Nationalsozialisten die wahre Loyalität der Menschen einschätzen?
  • Inwieweit musste die Herrschaft etabliert sein? Wo konnten sich die Nationalsozialisten damit begnügen, dass kein Widerstand – in welcher Form auch immer – geleistet wurde?
  • Was waren vernachlässigbare Sektoren?
  • Kann man nur „oberflächlich“ Nazi sein? Welchen Einfluss haben alleine die Sprache, die Symbolik und die Alltagsgesten (Hitler-Gruß) auf die Menschen?

Zugänge/Methoden

  • Ideologiekritische Interpretation von parteiamtlichen und staatlichen Erlassen und Rundschreiben
  • Gruppenpuzzle zu Aspekten der Einbindung und der Kontrolle von Staatsbediensteten
  • Kooperationsprojekt mit dem Fach Erziehungswissenschaft/Pädagogik: Die Hitlerjugend als zentraler Baustein in der Erziehung im Nationalsozialismus

Kommentar

Das Thema „Etablierung der Herrschaft“ kann man gut in zwei Schritten bearbeiten. Zuerst behandelt man die Ausführungen von Rudolf Heß, dem Stellvertreter des Führers in der NSDAP, über die „Bedeutung der Hitlerjugend“ vom 24. August 1935.

Dann wendet man sich drei Schreiben zu, die die enge Verzahnung von Staat und NS-Partei verdeutlichen: „Einheit Partei Staat 1935“, „Parteiaustritt Beamte Umlauf 1935“ und „Gefolgschaft 1936“. Die letzten beiden Schreiben mussten die Beamten und Verwaltungsangestellten der Kreisverwaltung Lüdinghausen per Umlauf zur Kenntnis nehmen und unterschreiben. Interessant ist dabei u.a., dass die Beamten und Angestellten der Kreisverwaltung (im Nazi-Jargon) als „Gefolgschaft“ aufgefordert werden Sparrücklagen für die Organisation „Kraft durch Freude“ (KdF) einzurichten. Durch die Umläufe erhält man auch einen guten Überblick über den Aufbau und dem Personalumfang der Kreisverwaltung. Auffällig ist hierbei, dass die wenigen Frauen zumeist als Stenotypistin bzw. als Verwaltungsgehilfin angestellt waren und zudem waren sie – gemäß der Zeit und ihren gesellschaftlichen Erwartungen – unverheiratet.

In einer kooperativen Arbeitsweise – wie zum Beispiel der Methoden des Gruppenpuzzles – kann man die Texte und ihre Bedeutung gut erschließen. Für größere Gruppen und zur Binnendifferenzierung kann man noch die Texte „Alte Kämpfer 1936“ und „Anrechnung von Parteidienstzeiten 1934“ zur Verfügung stellen. In einer anschließenden Plenumsdiskussion wendet man sich dann wieder dem Thema der „Etablierung der Herrschaft“ zu.

Aufgaben zu „Bedeutung der Hitlerjugend“

  1. Fassen Sie den Inhalt thesenartig zusammen.
  2. Beschreiben Sie die rhetorischen Mittel und den sprachlichen Gestus exemplarisch.
  3. Ordnen Sie die Quelle in den historischen Kontext ein.
  4. (in Zusammenarbeit mit dem Fach Erziehungswissenschaft/Pädagogik) Informieren Sie sich über die Hitlerjugend und die Erziehung im Nationalsozialismus (Buch, Internetrecherche).
  5. Erörtern Sie, inwiefern man die Quelle ideologiekritisch – unter dem Vergleich von Anspruch und Wirklichkeit – beurteilen und bewerten kann.

Material zu "Bedeutung der Hitlerjugend" (Quelle: LAV NRW W, K 332/Kreis Lüdinghausen Nr. 1344)

Aufgaben zu den anderen Materialien

Interpretation der Texte mittels der Methode des Gruppenpuzzles:

  • Bilden Sie Klein-Gruppen (je nach Kurs und Setting: 3 bis 5 SuS pro Gruppe)
  • In jeder Stamm-Gruppe werden auf die Mitglieder alle Quellen verteilt.
  • Einzelarbeit: Analysieren Sie ihre Quelle und halten Sie ihre Ergebnisse schriftlich fest.
  • Experten-Gruppe: Tauschen Sie sich mit allen, die auch ihre Quelle bearbeitet haben, aus. Vergleichen Sie ihre Ergebnisse und fassen Sie es zu einem Gruppenergebnis zusammen.
  • Stammgruppe: Rückkehr in die Stamm-Gruppe. Alle Ergebnisse der Expertengruppen werden vorgestellt.
  • Plenum: Die Ergebnisse werden unter dem inhaltlichen Aspekt der „Etablierung der Herrschaft“ ideologiekritisch diskutiert. Ein älteres Standardwerk über den Nationalsozialismus trägt den Titel „Verführung und Gewalt“ (Hans-Ulrich Thamer, 1986), wie kann man die Quelle zwischen diesen beiden Polen verorten?

Material zu "Einheit Partei Staat 1935" (Quelle: LAV NRW W, K 332/Kreis Lüdinghausen Nr. 1193)

Material zu "Parteiaustritt Beamte Umlauf 1935" (Quelle: LAV NRW W, K 332/Kreis Lüdinghausen Nr. 1344)

Material zu "Gefolgschaft 1936" (Quelle: LAV NRW W, K 332/Kreis Lüdinghausen Nr. 1344)

Material zu "Alte Kämpfer 1936" (Quelle: LAV NRW W, K 332/Kreis Lüdinghausen Nr. 1367)

Material zu "Anrechnung von Parteidienstzeiten 1934" (Quelle: LAV NRW W, K 332/Kreis Lüdinghausen Nr. 1367)