Modul 4: "Volksgemeinschaft - Prozesse der Integration"

Das Winterhilfswerk (WHW) sollte als Nothilfeaktion schnell sichtbare Erfolge bei der Bekämpfung der Folgen von Arbeitslosigkeit und Armut vorweisen. Nach seiner Gründung im September 1933 nahm es als Organisation und im Spendenaufkommen schnell gewaltige Ausmaße an. Durch die während der Wintermonate angeordneten und in der NS-Propaganda breit dargestellten Haus- und Straßensammlungen sowie nicht zuletzt durch seinen Abzeichenverkauf wurde das WHW zu einer der bekanntesten und den Alltag bestimmenden Erscheinungen im NS-Regime. Etwa 8.000 verschiedene Abzeichen in Millionenauflage wurden von Oktober 1933 bis März 1943 in unterschiedlichsten Ausführungen und Materialien zu den monatlichen Sammlungen und lokalen Anlässen herausgegeben. Im Coesfelder Stadtmuseum wird dieses Abzeichen aus versilbertem Buntmetall mit folgendem Infotext ausgestellt: „Abzeichen Gau-Treffen Nord. Aufschrift ´Hitlers Dank` und ´Winterhilfe` 1934. Leihgabe eines Coesfelder Sammlers“. Wahrscheinlich ist der Hersteller die Firma Paulmann & Crone aus Lüdenscheid. Der Durchmesser beträgt 36 mm, auf der Rückseite befindet sich eine Sicherheitsnadel zum Anstecken. Interessant ist, dass zwar Hitlers Kopf klar erkennbar ist, auf dem Jackenkragen aber keine NS-Symbolik zu finden ist.

Einführung

„Volksgemeinschaft“ ist ein schillernder Begriff, den nicht nur Nationalsozialisten gebrauchten, sondern vor 1933 auch Katholiken, liberale Parteien und Sozialdemokraten. In der politischen Kultur existierte nicht nur ein Verständnis von „Volksgemeinschaft“. Alle verbanden mit dem Wort jedoch die Überwindung der Gegenwart, durch Prozesse der Integration sollte eine bessere, harmonische Gesellschaft entstehen.

Die nationalsozialistische Ideologie verfolgte als Ziel eine antidemokratische Gesellschaft, in der das Führerprinzip gilt. Gemäß ihrem rassistischen Weltbild waren Nationalsozialisten zudem davon überzeugt, dass „Rassenfremde“, z.B. Jüdinnen und Juden, von vornherein nicht Teil der „Volksgemeinschaft“ sein können. Es ging also immer sowohl um Prozesse der Inklusion und Homogenisierung, als auch um Prozesse der Ausgrenzung und Gewalt gegen wirkliche oder angenommene Feinde oder – wie es im NS-Jargon heißt – „Schädlinge“. In anderen Punkten ist die Linie Hitlers und der NSDAP nicht immer klar oder kursierten sogar sich widersprechende Vorstellungen: z.B. Bildungspolitik, Wirtschaftspolitik, Einebnung von Standes- und Klassenunterschieden, Umgang mit alten Eliten und oppositionellen Milieus.

Aber selbst diese Unklarheiten machten den Begriff „Volksgemeinschaft“ noch brauchbarer, da man ihn propagandistisch in unterschiedlichen Kontexten für verschiedene Zielgruppen verwenden konnte. Die soziale Wirklichkeit wich zwar von der Propaganda ab, dennoch ist „Volksgemeinschaft“ ein Schlüsselbegriff für das Verständnis der NS-Zeit. Wie erfolgreich die NS-Ideologie vor Ort umgesetzt wurde, zeigt sich in den Interaktionen und Kommunikationen der Menschen im Beruf, in der Schule, im Verein, im öffentlichen Raum und im privaten Umfeld: Man kann Zugehörigkeit durch das Hissen der Flagge demonstrieren und durch ein verändertes Einkaufsverhalten jüdische Mitbürger ausgrenzen. Alltäglich wurde so im kleinen Rahmen ausgehandelt, was „Volksgemeinschaft“ konkret bedeutet. Es war kein starres Konzept und selbst in den 12 Jahren von 1933 bis 1945 hat sich die NS-Gesellschaft verändert. Allein das Verhältnis der christlichen Kirchen, für die Region die katholische Konfession, zum NS-Regime kann man in unterschiedliche Phasen der Annäherung und des Konfliktes unterteilen. Gerade zu Beginn der NS-Herrschaft erwiesen sich christliche Gemeinschaftsvorstellungen als anschlussfähig an die NS-Ideologie. Die Nationalsozialisten lockten nicht nur einen großen Teil der Bevölkerung an, viele Bürgerinnen und Bürger näherten sich aus eigenem Antrieb der NS-Bewegung. „Volksgemeinschaft“ entfaltete reale Wirkungen alleine dadurch, dass Menschen an diese Idee glaubten. Zahlreiche Gruppierungen verschmolzen mit den sich immer weiter ausdehnenden Parteiorganisationen. Für den einzelnen Menschen wurde es immer schwieriger, außerhalb der „Volksgemeinschaft“ zu leben. In Teilen waren spätestens in den Kriegsjahren die Gesellschaft und die Partei nahezu deckungsgleich, die NS-Organisationen hatten es geschafft, praktisch alle möglichen Mitglieder zu erfassen.

Terror und Zwang musste das NS-Regime nur selektiv einsetzen, die Bevölkerungsmehrheit verhielt sich regimekonform. Dank der erheblichen Integrationskraft hielt diese Unterstützung bis weit in die zweite Hälfte der Zweiten Weltkrieges. Teilweise waren sogar ehemals oppositionell eingestellte Milieus und Gruppen zum Konsens bereit. "Volksgemeinschaft" wurde konkret v.a. durch die Aktivisten vor Ort hergestellt. Einzelne Parteigenossen hatten die Aufgabe die Bevölkerung in ihrem Tätigkeitskreis im Sinne der rassistischen Weltanschauung zu beeinflussen. Gerade die Mehrheit, die vor 1933 nicht den Nationalsozialismus unterstützt hatte, musste zumindest das Handeln der Nationalsozialisten als akzeptabel ansehen und nach Möglichkeit zum aktiven Mitmachen angeregt werden. Schwierig war dies für Nationalsozialisten in der Region, da die katholische Kirche mit ihrem relativ gefestigten Milieu und ihrem Rückhalt bei den traditionellen örtlichen Eliten bis zum Kriegsende nicht vollständig beseitigt wurde, sondern ihre gesellschaftliche Gestaltungskraft bewahrte. In den Stimmungsberichten, die monatlich angefertigt werden mussten, wird daher häufig sehr ausführlich über die Haltung der katholischen Kirche vor Ort berichtet. Im Alltag war die Grenze aber in vielen Fällen nicht so klar zu ziehen. Man muss konkret schauen, welche Akteure in welchem thematischen Kontext eine Politik der „Volksgemeinschaft“ betrieben haben. „Volksgemeinschaft“ ist zugleich ein Mythos der Propaganda und eine soziale Tatsache, die fortwährend neu verhandelt wurde und als soziale Praxis mit Leben gefüllt wurde.

Ein Paradebeispiel ist der Hitlergruß. Durch die Verwendung oder dessen bewusste Unterlassung drückte sich die Haltung zum NS-Regime für jedermann offensichtlich aus. Nähe zum System wurde auch sichtbar durch die Teilnahme an den festlichen Inszenierungen zum 1. Mai. Die schon angesprochenen Sammlungen für das WHW und die Eintopfsonntage brachten das NS-System bis in die Nachbarschaft. Für lokale Studien eignen sich als Untersuchungsgegenstand die Jugend und ihre möglichst totale Erfassung (HJ und BDM). In engem Zusammenhang stehen hierzu auch die Lehrkräfte, besonders die Volksschullehrerschaft. Gerade in kleinen Gemeinden waren sie prädestiniert als Propagandisten der „Volksgemeinschaft“. Durch ihre Tätigkeiten prägten sie die heranwachsende Generation und übten so auch zumindest indirekt auf die Familien ein systemkonformes Verhalten aus. Sie hatten die Möglichkeit die dörfliche Bevölkerung für die NS-Organisationen zu mobilisieren und gerade in den Schulfeiern und bei Sammlungsaktionen stellten sie „Volksgemeinschaft“ vor Ort her.

Fragen

  • Warum war der Gedanke der „Volksgemeinschaft“ für viele Menschen attraktiv?
  • Wie versuchten die Nationalsozialisten auf lokaler Ebene die „Volksgemeinschaft“ herzustellen?
  • In welche (klein-)städtischen, dörflichen und ländlichen Rahmenbedingungen waren diese Prozesse und Praktiken eingebunden?
  • Welche Rolle spielte der propagandistische Aufwand für die „Volksgemeinschaft“?
  • Welche Bedeutung hatten die nationalsozialistischen Jugendorganisationen (HJ / BDM) für die jungen Menschen?
  • „Volksgemeinschaft“: Mythos, wirkungsmächtige soziale Verheißung oder soziale Realität im „Dritten Reich“?

Schnelleinstieg

Zugänge/Methoden

  • Ideologiekritische Interpretation von parteiamtlichen und staatlichen Schreiben und Zeitungsartikeln
  • Kooperationsprojekt mit den Fächern Erziehungswissenschaft/Pädagogik, Musik, Religionslehre/Philosophie: die feierliche „Verpflichtung der Jugend 1942“
  • Analyse und Interpretation von „Stimmungsberichten“

Kommentar

Das Thema „Volksgemeinschaft – Prozesse der Integration“ ist sehr vielfältig. In diesem Modul werden fünf Facetten erhellt.

In „Vorbereitung auf den 1. Mai 1933“ wird deutlich, wie die Nationalsozialisten die „Volksgemeinschaft“ bilden wollten. Sie setzten dabei sowohl auf Propaganda, Massenmobilisierung und strenge Überwachung, andererseits luden sie auch große Teile der Bevölkerung zum Mitmachen ein.

Das Konstrukt der „Volksgemeinschaft“ zeigte sich auch allgegenwärtig im Alltag durch die besondere Stellung des Hitler-Grußes, wie in dem Zeitungsartikel „Hitler-Gruß ist Deutscher Gruß“ deutlich wird.

Ein wichtiger Teil der „Volksgemeinschaft“ war auch die Jugend, auf die das NS-Regime mit Hilfe der Institutionen Schule und Jugendorganisationen Zugriff ausübte. In „Lehrer Notz aus Gescher (1936/37)“ geht es dabei um das sanktionierte Verhalten eines Lehrers. Das Programmheft zur feierlichen „Verpflichtung der Jugend 1942“ in Lüdinghausen führt die Liedtexte auf, die gesungen wurden und selbstverständlich ein NS-konformes Bild der Jugend und ihres Platzes in der Gesellschaft des Dritten Reiches transportieren sollten.

Abschließend sind die „Stimmungsberichte“, die monatlich von Gauinspekteuren und Kreisleitern der NSDAP an die Gauleitung geschickt werden mussten, interessante Quellen. Sie müssen ideologiekritisch gelesen werden, geben aber einen aufschlussreichen Einblick in die lokale Gesellschaft und die Perspektiven der hiesigen Parteigrößen.

Aufgaben zu „Vorbereitung auf den 1. Mai 1933“

  1. Vorüberlegung: Schreiben Sie 5 bis 10 Begriffe auf, die Sie spontan mit dem Begriff „1. Mai“ assoziieren.
  2. Informieren Sie sich über den „1. Mai“ und stellen Sie die Entwicklung des Tages bis zur Gegenwart da. (Differenzierung: Betrachten Sie unterschiedliche Länder!)
  3. Erläutern Sie die Planungen der Nationalsozialisten zum 1. Mai 1933.
  4. Prüfen Sie, wie diese Planungen die Idee der „Volksgemeinschaft“ aufgreifen.
  5. Erörtern Sie die Potenziale und die Grenzen der Idee der „Volksgemeinschaft“.

Material

Quelle: Kreisarchiv Coesfeld, Bestand 2 Nr. 233 (Seite 1-4).

Aufgaben zu „Hitler-Gruß ist Deutscher Gruß“

  1. Fassen Sie den Inhalt des Zeitungsartikels zusammen.
  2. Beurteilen Sie die Bedeutung des Textes für verschiedene Bevölkerungsgruppen.
  3. Diskutieren Sie, welchen Einfluss der Akt des Grüßens auf die Idee der „Volksgemeinschaft“ und die Loyalität zum NS-Regime hatte.

Material

(Artikel in der Lüdinghauser Zeitung, 15. Juli 1933). Quelle: Kreisarchiv Coesfeld, Bestand 2 Nr. 233 (Seite 7)

Aufgaben zu „Lehrer Notz aus Gescher (1936/37)“

  1. Skizzieren Sie den Vorfall und die Reaktion.
  2. Nennen Sie die wichtigsten Bestimmungen des Reichskonkordates (1933) und erklären Sie die Bedeutung des Vertrages.
  3. Arbeiten Sie an diesem exemplarischen Fall heraus:
    • a. Wie ist das Verhältnis von Partei und Staat?
    • b. Welche Bedeutung hat die Institution Schule für die „Volksgemeinschaft“?
  4. Bewerten Sie das an diesem Fall sichtbar werdende Verständnis von „Volksgemeinschaft“.

Material

LAV NRW W, S 003/NSDAP, Gauleitung Westfalen-Nord, Gauschulungsamt Nr. 234 (Seite 1-4)

Aufgaben zu „Verpflichtung der Jugend“

(in Zusammenarbeit mit den Fächern Musik, Pädagogik und/oder Religionslehre/Philosophie)

  1. Untersuchen Sie den Ablauf der Feier.
  2. Analysieren Sie die Liedtexte und gehen Sie dabei auch auf Aspekte ein, die die Realisierung der „Volksgemeinschaft“ unterstützen sollen.
  3. Vergleichen Sie die „Verpflichtung“ mit anderen Übergangsriten (christlich: Konfirmation bzw. Firmung; atheistisch: Jugendweihe; neutral: Schulentlassfeier)

Material

Quelle: Kreisarchiv Coesfeld, Bestand 2 Nr. 233 (Seite 9-12)

Aufgaben zu „Stimmungsberichte“

  1. Erklären Sie die Funktion und den Aufbau eines Stimmungsberichtes.
  2. Interpretieren Sie einen Stimmungsbericht. (Differenzierungsmöglichkeit: Die Berichte sind unterschiedlich lang. Der Bericht vom 9. August 1934 ist v.a. in sprachlich-ideologischer Hinsicht interessant.)
  3. Vergleichen Sie ihre Ergebnisse.

Material

  • LAV NRW W, S 002/NSDAP, Gauleitung Westfalen-Nord, Gauinspekteure Nr. 10  (Seite 1-7, Bericht August 1934).
  • LAV NRW W, S 002/NSDAP, Gauleitung Westfalen-Nord, Gauinspekteure Nr. 10 (4 Seiten, Lüdinghausen, 9. August)
  • LAV NRW W, S 003/NSDAP, Gauleitung Westfalen-Nord, Gauschulungsamt Nr. 44 (2 Seiten, „Stimmungsbericht für den Monat August 1935“, Dülmen)
  • LAV NRW W, S 003/NSDAP, Gauleitung Westfalen-Nord, Gauschulungsamt Nr 211 (3 Seiten, „Bericht der weltanschaulichen Lage“, Dülmen, 2. November 1937)